Vom lokalen Protest zum internationalen Streit. Zwei Zellstofffabriken belasten die argentinisch-uruguayischen Beziehungen
Die Königin lässt ihre Robe heruntergleiten, löst sich aus der Menschenmenge und läuft entschlossenen Schrittes auf die strammstehende Reihe dunkel gekleideter Amtsträgerinnen und Amtsträger zu. Ihr Pailletten-Bikini ist schmal und der Aufruf klar: BASTA DE PAPELERAS CONTAMINANTES / NO PULP MILL POLLUTION steht auf dem Plakat, das sie vor den Staatsoberhäuptern, die sich gerade für das Gruppenfoto des IV. EU-Lateinamerika Gipfels in Wien in Stellung bringen, in die Kameras hält. Die gestiefelte, leicht bekleidete Dame ist Evangelina Carrozzo, Karnevalskönigin der argentinischen Stadt Gualeguaychú und Greenpeace-Aktivistin, die gegen den Bau zweier Zellstofffabriken am Río Uruguay, unweit ihrer Heimatstadt, protestiert. Ihr Auftritt sorgt für allgemeine Heiterkeit unter den Staatsoberhäuptern.[1]
Zu diesem Zeitpunkt, am 12. Mai 2006, hat der Konflikt um die Errichtung der beiden Zellulosefabriken am Grenzfluss zwischen Argentinien und Uruguay seinen Höhepunkt erreicht. Buenos Aires und Montevideo kommunizieren nur noch über die Presse. Man weist sich gegenseitig die Schuld am Scheitern der bilateralen Verhandlungen zu. Kurz zuvor, am 4. Mai 2006, hat die argentinische Regierung unter Néstor Kirchner, vom peronistischen Frente para la Victoria, Klage gegen Uruguay beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eingereicht. Es ist das erste Mal, dass sich das Land an das Haager Gericht wendet. Am Tag darauf tritt Kirchner mit 19 Gouverneurinnen und Gouverneuren im Gefolge vor einer Kulisse von 30 000 Menschen in Gualeguaychú auf.[2]
Wie konnte es zu einer derartigen Ausweitung eines Konfliktes kommen, der mit lokal begrenzten Umweltprotesten in der argentinischen Provinz Entre Ríos begonnen hatte und dann über Jahre hinweg das außenpolitische Verhältnis zweier Nachbarstaaten dominierte und verschiedene internationale Organisationen beschäftigte, bevor er schließlich in Den Haag verhandelt wird? Und welche Rolle spielt dabei die Aneignung von Raum durch die Protestbewegung in der Umgebung von Gualeguaychú?
Der Konflikt um die Zellstofffabriken beginnt in Fray Bentos, einer beschaulichen Kleinstadt im Südwesten Uruguays, gelegen am Río Uruguay. Dieser mächtige Strom markiert über 300 Kilometer lang eine Staatsgrenze: an seinem östlichen Ufer befindet sich die nach ihm benannte Republik, an seinem westlichen die argentinische Provinz Entre Ríos. Verbunden sind die Nachbarstaaten durch insgesamt drei Brücken. Eine davon, die Brücke General San Martín, verbindet Fray Bentos über die Nationalstraße 136 mit der argentinischen Karnevalshochburg Gualeguaychú, einer Stadt von 75 000 Einwohnerinnen und Einwohnern, die hauptsächlich vom Tourismus und von der Landwirtschaft lebt. Dieser Brücke kommt im Lauf des Konflikts zentrale Bedeutung zu.
Mit der Ruhe in Fray Bentos ist es vorbei, als Uruguays Regierung unter Präsident Jorge Batlle vom Partido Colorado, einer der zwei großen traditionellen Parteien Uruguays, im Jahr 2002 ankündigt, dem spanischen Konzern ENCE[3] eine Genehmigung zum Bau einer Zellstofffabrik zwölf Kilometer nördlich des Ortes zu erteilen.[4] Diese soll jährlich bis zu 500 000 Tonnen Zellulose für die Papierindustrie produzieren.[5] Das Projekt ist im Kontext der umfassenden staatlichen Förderung zu sehen, von der die industrielle Forstwirtschaft in Uruguay seit den 1960er Jahren profitiert.[6] Unter anderem dank des Forstgesetzes von 1987, das zinsgünstige Darlehen, Steuervergünstigungen und direkte Subventionen in Höhe von bis zur Hälfte der Investitionskosten vorsieht, wächst die von der industriellen Forstwirtschaft genutzte Fläche zwischen 1987 und 2003 von 45 000 Hektar auf etwa 750 000 Hektar an. Angebaut werden hauptsächlich schnellwachsende Eukalyptus-Monokulturen für den Export von Holz.[7] Die Errichtung der Zellstofffabrik bei Fray Bentos ist für die uruguayische Regierung eine Fortsetzung dieser Politik, die darauf abzielt, höherwertige Teile der Wertschöpfungskette ins Land zu holen.[8]
Mit den Monokulturen wächst in Uruguay allerdings auch der Widerstand gegen die industrielle Forstwirtschaft und es entstehen Nichtregierungsorganisationen, die die Umweltauswirkungen der Plantagen kritisieren. Es sind diese Organisationen, die gemeinsam mit lokalen Gruppen aus Fray Bentos zuerst gegen den Bau der ENCE-Fabrik mobilisieren.[9] Sie argumentieren, dass die Abwässer des Betriebs das Ökosystem des Flusses, die Landwirtschaft und die Gesundheit der lokalen Bevölkerung bedrohen.[10] In der Folge suchen sie den Kontakt zu Umweltorganisationen vom anderen Flussufer und bilden ein binationales Netzwerk, das kleinere Demonstrationen und Informationsveranstaltungen in Gualeguaychú organisiert und so die argentinische Bevölkerung sensibilisiert.[11] Am 3. Oktober 2003, kurz bevor die uruguayische Regierung den Bau der Fabrik genehmigt, organisiert dieses Netzwerk eine Demonstration auf der Brücke General San Martín zwischen Gualeguaychú und Fray Bentos, an der 1500 Personen von beiden Flussufern teilnehmen. Dieser Protest findet auf nationaler Ebene aber noch wenig Beachtung.[12]
Dies ändert sich, als Präsident Batlle am 14. Februar 2005,[13] zwei Wochen vor Amtsantritt seines Nachfolgers Tabaré Vázquez vom linken Parteibündnis Frente Amplio, dem finnischen Konzern Botnia[14] eine Genehmigung für den Bau einer zweiten Zellstofffabrik bei Fray Bentos erteilt, deren jährliche Produktionskapazität mit einer Million Tonnen Zellulose doppelt so groß sein soll wie die des ENCE-Werks. Gemeinsam stellen die beiden Bauprojekte mit 1,7 Milliarden US-Dollar die höchste Auslandsinvestition in der Geschichte Uruguays dar. Nach ihrer Fertigstel-lung sollen die beiden Industriebetriebe das weltweit größte Cluster im Zellstoffsektor bilden und 600 direkte sowie über 8000 indirekte Arbeitsplätze schaffen.[15]
Die Protestbewegung reagiert auf die Genehmigung und den kurz darauf begonnen Bau der Botnia-Fabrik ihrerseits mit einem Superlativ: Am 30. April 2005 versammeln sich mehr als 40 000 Menschen auf der Brücke General San Martín zur bis dahin größten Umweltdemonstration in der Geschichte Argentiniens, die über Lateinamerika hinaus große Medienaufmerksamkeit findet.[16] Die Aktion wird in Anspielung auf das Zusammentreffen argentinischer und uruguayischer Demonstrierender in der Mitte der Brücke Abrazo al Río Uruguay genannt. Die „Umarmung des Flusses Uruguay“ wird sich von nun an alljährlich wiederholen, wobei sich die Zahl der uruguayischen Teilnehmenden nach und nach auf wenige Hundert reduziert, während die der argentinischen Protestierenden schnell zunimmt. So demonstrieren im Jahr darauf bereits 80 000 Menschen auf der Brücke.[17]
In der Folge dieses ersten Abrazo al Río gründet sich auch eine neue Vereinigung, die schon bald zum zentralen Protestakteur avanciert: die Asamblea Ciudadana Ambiental de Gualeguaychú. Unter dem Dach dieser Organisation institutionalisiert sich die zuvor nur lose zusammenhängende Bewegung aus Gualeguaychú, die sich aus Bürgerinnen und Bürgern aller Altersklassen, vor allem jedoch der argentinischen Mittelschicht zusammensetzt. Sie umfasst Angestellte, Selbstständige und kleinere und mittlere Landwirte, die sich vom Bau der Fabriken wirtschaftlich bedroht sehen.[18] Allerdings behält die Asamblea den horizontalen, netzwerkförmigen Charakter der Protestinitiative bei, sie entwickelt keine Hierarchie und auch keine bürokratischen Strukturen.[19] Typischerweise versammelt sie sich zweimal pro Woche im Theater oder im Kulturzentrum von Gualeguaychú, wobei Entscheidungen durch die absolute Mehrheit der jeweils Anwesenden, in der Regel zwischen 500 und 1000 Personen, getroffen werden.[20] Das politische Ziel der Asamblea ist von Beginn an festgelegt und lässt nur wenig Spielraum für Verhandlungen:[21] Überzeugt vom umweltverschmutzenden Charakter der Zellstoffindustrie und unter dem Motto No a las papeleras. Sí a la vida[22] fordert sie die Einstellung der beiden Bauvorhaben bei Fray Bentos.
Gleichzeitig ändert sich mit der Genehmigung der zweiten Zellstofffabrik und der darauffolgenden Demonstration die Position der argentinischen Regierung. Diese hatte in den Vorjahren zwar ihre Besorgnis über das ENCE-Projekt ausgedrückt, es aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt: Nicht der Bau der Fabrik an sich war für die Führung in Buenos Aires der Stein des Anstoßes, sondern die unzureichende Informationspolitik von Seiten Uruguays hinsichtlich der zu erwartenden Umweltauswirkungen des Bauvorhabens und die mangelnde Kooperation des Nachbarn im Rahmen des Statuts des Río Uruguay (Estatuto del Río Uruguay).[23] Dieses von beiden Seiten ratifizierte Statut von 1975 regelt die gemeinsame Nutzung des Flusses. Darüber wacht eine binationale Verwaltungskommission, die Comisión Administradora del Río Uruguay (CARU), die im Voraus über jegliche Maßnahmen zu informieren ist, die zum Beispiel den Schiffsverkehr, die Wassernutzung und die Ökologie des Flusses betreffen.[24] Diese rein technisch-prozeduralen Einwände der argentinischen Regierung scheinen nach einem Treffen der beiden Außenminister im März 2004 ausgeräumt. So gibt man nach dem Gespräch bekannt, sich in der Frage der Zellstofffabrik auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt zu haben. Uruguay werde der CARU alle relevanten Informationen zur Verfügung stellen. Die Kommission werde dann das Monitoring der Wasserqualität des Flusses übernehmen.[25]
Mit dem ersten Abrazo al Río wandelt sich allerdings der Charakter des Konflikts: Aus einer Unstimmigkeit über eine verfahrenstechnische Angelegenheit wird für die argentinische Regierung ein innenpolitisches Problem. Sie reagiert darauf zunächst mit einer Intensivierung des bilateralen Dialogs. Fünf Tage nach der Demonstration treffen sich Néstor Kirchner und Tabaré Vázquez in Buenos Aires und einigen sich auf die Einrichtung einer gesonderten technischen Kommission mit paritätischer Besetzung durch Fachleute beider Länder, der sogenannten GTAN (Grupo Técnico de Alto Nivel]. Diese soll die potentiellen Umweltauswirkungen der Zellstofffabriken analysieren und innerhalb von 180 Tagen einen Bericht erstellen.[26] Zwischen August 2005 und Januar 2006 trifft sich diese Kommission zwölf Mal, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen. Am 31. Januar 2006 erklärt Uruguay die Verhandlungen für beendet; Argentinien folgt drei Tage später. Anstelle eines gemeinsamen Reports veröffentlicht jede Seite ihre eigenen Erkenntnisse über die Umweltauswirkungen der geplanten Produktionsanlagen.[27]
Die Verhandlungen scheitern, weil man sich nicht auf gemeinsame Standards zur Messung der Umweltfolgen einigen kann,[28] aber auch weil die uruguayische Regierung parallel zu den Verhandlungen den Bau der Fabriken vorantreibt.[29] Die argentinische Regierung gerät infolgedessen innenpolitisch zunehmend unter Druck und schlägt daraufhin einen Konfrontationskurs ein.
So lehnt die Asamblea de Gualeguaychú die GTAN-Initiative von Beginn an ab, zum einen, weil die Erkenntnisse der Kommission keine verbindlichen Folgen für den Bau der Fabriken haben sollen, und zum anderen, weil die Bauarbeiten am anderen Ufer des Flusses in der Zwischenzeit nicht ausgesetzt werden. Deshalb ändert sie im August 2005 ihre Strategie: Anstatt sich darauf zu konzentrieren, möglichst viele Menschen zu mobilisieren, setzt sie fortan auf direkte Störaktionen: Sie beginnt, die Nationalstraße 136 vor der Brücke General San Martín am sogenannten Arroyo Verde abzusperren, um die Lieferung von Material für die Botnia-Baustelle zu behindern. Die Blockaden bleiben aber zunächst sporadischer Natur.
Unterstützt wird die Asamblea vom Gouverneur der Provinz Entre Ríos vom peronistischen Frente para la Victoria, Jorge Busti. Dieser hatte die Demonstration vom 30. April 2005 von einem Helikopter aus verfolgt und sich daraufhin an die Spitze der Bewegung gestellt.[30] Nun distanziert sich Busti öffentlich vom argentinischen Außenministerium und von der GTAN-Initiative[31] und macht im Laufe der nächsten Monate durch verschiedene medienwirksame Alleingänge auf sich aufmerksam. Noch bevor die Kommission zum ersten Mal zusammentritt, wendet sich der Gouverneur im Juni 2005 an die International Finance Corporation (IFC) und fordert sie auf, ihre geplante Finanzierung der beiden Zellstofffabriken in Höhe von 400 Millionen US-Dollar auszusetzen und vom Ergebnis einer Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung abhängig zu machen.[32] Wenig später kündigt er an, er werde Uruguay bei der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission verklagen und sich für einen Stopp des Exports von Gas und technischen Gütern, die für den Betrieb der Fabrik bestimmt sind, einsetzen. Darüber hinaus will Busti argentinische Unternehmen, die mit den beiden Fabrikbetreibern zusammenarbeiten, von öffentlichen Aufträgen ausschließen.[33]
Getrieben von diesen Entwicklungen reist der argentinische Außenminister Rafael Bielsa im August 2005 nach Gualeguaychú, wo er von etwa zweihundert Demonstrierenden empfangen wird, die ihm vorwerfen, die Provinz Entre Ríos im Stich zu lassen. Nach einem Treffen mit der Asamblea und der Provinzregierung, kündigt Bielsa an, mit seinen Gesprächspartnern eine gemeinsame Strategie entwickeln zu wollen, die darauf gerichtet ist, den Bau der Fabriken zu stoppen.[34] Im selben Monat findet ein Treffen der Asamblea mit Néstor Kirchner in der Casa Rosada, dem Amtssitz des Präsidenten, statt. In der darauffolgenden Pressekonferenz erklärtet Bielsa den Konflikt zu einer „nationalen Frage“ und fordert Uruguay auf, den Bau der Zellstofffabriken bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse der GTAN-Initiative zu unterbrechen. Andernfalls werde die Regierung Maßnahmen ergreifen, um den Bau der Werke zu behindern.[35]
Uruguay reagiert auf diese Vorstöße, die wohl auch im Kontext der nahenden Parlamentswahlen in Argentinien zu deuten sind, mit Beschwerden beim argentinischen Außenministerium und mit einem zeitweisen Boykott der GTAN-Verhandlungen.[36] Kurz nach dem Treffen Kirchners mit der Asamblea meldet sich der uruguayische Außenminister Reinaldo Gargano zu Wort: Bei der Errichtung der Zellstofffabriken handele es sich um eine souveräne Entscheidung Uruguays.[37]
In den folgenden Monaten weitet sich der Konflikt auf die internationale Ebene aus. Im September 2005 setzt Gouverneur Jorge Busti seine Ankündigung in die Tat um und verklagt Uruguay bei der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission in Washington. Zugleich reicht er eine offizielle Beschwerde bei der Ombudsfrau der Weltbank über die IFC ein, die den Bau der Fabriken finanziert.[38] Darüber hinaus attackiert er Uruguay über die Medien: Der Kampf gegen die Zellstofffabriken habe für ihn höchste Priorität, da die Gesundheit von 300 000 Bürgerinnen und Bürgern von Entre Ríos auf dem Spiel stehe; wenn es nötig sei, drehe er den Unternehmen eigenhändig den Gashahn zu.[39] Und als er im Oktober schließlich öffentlich mutmaßt, dass es im Zusammenhang mit den beiden Fabriken „besondere Anreize“ (sprich: Korruption) auf Seiten der uruguayischen Regierung gegeben haben könne, bestellt diese zum ersten Mal seit den 1950er Jahren den argentinischen Botschafter ein.[40]
Im Dezember veröffentlicht die IFC die Ergebnisse ihrer Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung, denen zufolge mit dem Bau der Fabriken keine negativen Auswirkungen auf die Umwelt einhergehen. Busti erhebt daraufhin Einspruch beim Präsidenten der Weltbank: Die Prüfung habe wichtige Informationen und frühere Forschungsergebnisse nicht miteinbezogen.[41] Auf uruguayischer Seite wird der Konflikt jetzt immer stärker als eine Frage der Durchsetzung der nationalen Souveränität gegenüber dem größeren Nachbarn verstanden. Hinter Präsident Vázquez schließen sich die Reihen. Die Führer der beiden großen Oppositionsparteien, des Partido Blanco und des Partido Colorado, und die Unternehmensverbände und Gewerkschaften stellen sich hinter die Regierung und verteidigen die Errichtung der Zellstofffabriken.[42] Und auch in den Medien des Landes sind kaum mehr kritische Stimmen zu dem Bauprojekt zu hören.[43] Im Januar 2006 beendet Uruguay schließlich die GTAN-Verhandlungen.
Als Reaktion auf das Scheitern der Gespräche beginnt die Asamblea de Gualeguaychú mit der Abriegelung der Nationalstraße 136, die zur Brücke General San Martín führt. Die Blockade dauert 45 Tage an und erstreckt sich zeitweise auch auf die anderen beiden internationalen Brücken zwischen Argentinien und Uruguay. Der Grenzverkehr kommt in dieser Zeit teilweise komplett zum Erliegen.[44] Während der Sommerferien, die viele Argentinierinnen und Argentinier sonst traditionell im Nachbarland verbringen, entsteht Uruguay durch den stockenden Tourismus ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden. Die Atmosphäre am zentralen Punkt der Absperrung, dem Arroyo Verde, ist nachbarschaftlich. Es gibt Küchen, Toiletten und Pavillons – Familien aus Gualeguaychú verbringen dort das Wochenende.
Die Aktion der Asamblea zeigt zunächst Wirkung: Vázquez und Kirchner nehmen schon im Februar 2006 die Verhandlungen wieder auf und einigen sich bei einem Treffen anlässlich des Amtsantritts der neuen chilenischen Präsidentin, Michelle Bachelet, in Santiago de Chile auf eine gemeinsame Vorgehensweise.[45] Buenos Aires werde für eine Unterbrechung der Blockaden sorgen und Montevideo im Gegenzug die Bauarbeiten an den beiden Fabriken für 90 Tage aussetzen. Darüber hinaus soll eine gemeinsame technische Kommission zur Überwachung des Flusses ins Leben gerufen werden.[46] Allerdings scheitert auch diese zweite Initiative zur Beilegung des Konflikts nach wenigen Wochen. Während Kirchner die Asamblea von einem Stopp der Straßensperrungen überzeugen kann,[47] möchte Vázquez die beiden Fabrikbetreiber nicht zwingen, die Bauarbeiten zu unterbrechen – wohl auch aufgrund eines Investitionsschutzabkommens mit Finnland, das Botnia Entschädigungszahlungen im Fall von Verlusten durch Proteste zusichert. Stattdessen sollen die beiden Unternehmen von sich aus auf die uruguayische Regierung zugehen.[48] Während ENCE dieser Bitte nachkommt, erklärt sich Botnia lediglich zu einem Baustopp von zehn Tagen bereit, woraufhin die Asamblea ihre Blockaden wieder aufnimmt. Am 6. April erklärt der uruguayische Außenminister den Dialog für beendet.[49]
Eine Woche später verbucht die Regierung in Buenos Aires einen Etappensieg: Nach einer ersten Prüfung der Beschwerde Argentiniens vertagt die IFC die Finan-zierung der beiden Zellstofffabriken; man wolle zunächst ein weiteres Umwelt- und Sozialverträglichkeitsgutachten erstellen, da das vorliegende Gutachten nicht alle relevanten Informationen miteinbezogen habe.[50] Am 30. April 2006 demonstrieren 80 000 Menschen, die sämtlich von argentinischer Seite gekommen sind, auf der Brücke General San Martín, doppelt so viele wie im Vorjahr.[51] Und am 4. Mai leiten beide Regierungen rechtliche Schritte in die Wege: Uruguay reicht beim Ad-hoc-Schiedsgericht des MERCOSUR eine Beschwerde gegen die argentinische Regierung ein und begründet sie mit deren Passivität gegenüber den Blockaden; Argentinien verklagt Uruguay wegen mangelnder Kooperation und mangelnden Umweltschutzmaßnahmen vor dem IGH. Es folgt, am 12. Mai, der leichtbekleidete Auftritt der Karnevalskönigin Evangelina Carrozzo in Wien.
Mit der Überweisung des Konflikts an die beiden internationalen Tribunale entspannt sich die Situation. Beide Regierungen haben ihr Gesicht gewahrt, ihr Pulver verschossen und die Klärung des Streits aus der Hand gegeben. Zudem erklärt sich die Asamblea bereit, trotz der voranschreitenden Bauarbeiten auf der Botnia-Baustelle ihre Blockaden auszusetzen, um die Prozesschancen der argentinischen Regierung in Den Haag nicht zu beeinträchtigen. Und sie hält an dieser Entscheidung auch fest, als die argentinische Regierung im Juli 2006 einen Rückschlag vor dem IGH erleidet, der ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht stattgibt und den Bau der Fabriken nicht bis zur Verhängung des Urteils aussetzt.[52] Das von Uruguay angerufene MERCOSUR-Schiedsgericht erlässt seinen Schiedsspruch im folgenden September und stellt fest, dass die argentinische Regierung aufgrund ihrer permissiven Haltung gegenüber den Blockaden den Vertrag von Asunción verletzt habe, der die Freizügigkeit von Gütern und Dienstleistungen innerhalb des Integrationsblocks garantiert.[53] Es verhängt zwar keine Sanktionen für den aus den Blockaden entstandenen Schaden, den Uruguay auf 400 Millionen US-Dollar beziffert, aber die Feststellung der Vertragsverletzung ist für die argentinische Regierung ein Schuss vor den Bug.[54]
Zwei Wochen darauf kann sie sich allerdings über einen Erfolg freuen: Am 21. September gibt das spanische Unternehmen ENCE bekannt, dass es seine Fabrik nicht bei Fray Bentos errichten wird, da die Stadt nicht die notwendige Infrastruktur für zwei Zellstofffabriken biete. Das Werk, dessen Bau noch nicht weit fortgeschritten ist, soll stattdessen an einem anderen Standort in Uruguay errichtet werden.[55] Damit ergibt sich eine gute Ausgangsposition für die Wiederaufnahme von Verhandlungen, denn beide Seiten haben Erfolge in eigener Sache erzielt. Néstor Kirchner nutzt sie und bittet den spanischen König Juan Carlos I. auf dem Ibero-Amerikanischen Gipfel in Montevideo am 2. November darum, im Konflikt um die Zellstofffabriken zu vermitteln. Sowohl der König als auch Uruguay stimmen zu.[56]
Allerdings wird auch diese dritte Verhandlungsinitiative gleich zu Beginn von den lokalen Ereignissen in Gualeguaychú überschattet. Denn in Reaktion auf die Mitte Oktober veröffentlichte zweite Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfung der IFC, der zufolge die Produktionstechnologie der beiden Zellstofffabriken europäischen und US-Standards entspricht und keine negativen ökologischen Folgen für den Río Uruguay zu erwarten sind,[57] entschließt sich die Asamblea dazu, die Blockade am Arroyo Verde für drei Tage wiederaufzunehmen. Die Diskussion an diesem Abend in Gualeguaychú ist gespalten; am Ende setzen sich die radikaleren Stimmen durch, die in der direkten Aktion den einzigen Weg sehen, um die voranschreitenden Bauarbeiten an der Botnia-Baustelle zu stoppen.[58] Sowohl Jorge Busti als auch Néstor Kirchner versuchen daraufhin, die Asamblea von dieser Entscheidung abzubringen. Sie argumentieren, dass die Absperrmaßnahme dem Interesse Argentiniens schade, und verurteilen den Beschluss mit harten Worten.[59] Zu einer gewaltsamen Unterbindung der Blockade sind sie allerdings nicht bereit. Das ändert sich auch nicht, als die Asamblea am 21. November – nachdem die IFC Kredite an Botnia in Höhe von 170 Millionen US-Dollar bewilligt hat – eine zeitlich unbegrenzte Abriegelung der Nationalstraße 136 ankündigt. Für Vázquez ist das ein Affront.[60] Er unterbricht zwischenzeitlich die Verhandlungen, reicht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Auflösung der Blockaden beim IGH ein und beauftragt das Militär, die Botnia-Baustelle zu schützen.[61] Darüber hinaus beschäftigt sich Vázquez, wie er später einräumt, auch mit dem Szenario einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Argentinien und bittet US-Präsident George W. Bush für diesen Fall um seine Unterstützung.[62] Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat sich das Verhältnis zwischen der argentinischen Regierung und der Asamblea verändert: aus Einheit ist Differenz geworden.
Mit der Aufnahme der zeitlich unbegrenzten Blockade am Arroyo Verde und der fehlenden Bereitschaft Néstor Kirchners, diese – wenn nötig, gewaltsam – zu unterbrechen, gerät der Konflikt um die Zellstofffabriken in eine festgefahrene Situation. Die Asamblea erhält ihre Sperrung der Nationalstraße 136 aufrecht und besetzt zwischenzeitlich auch wieder die anderen beiden internationalen Brücken zwischen Uruguay und Argentinien.[63] Zudem weitet sie ihren Protest auf die argentinische Hauptstadt aus, wo sie große Demonstrationszüge zur Casa Rosada und Kundgebungen vor der finnischen Botschaft und am Hafenterminal des Fährunternehmens Buquebús organisiert, dessen Schiffe Buenos Aires und Montevideo miteinander verbinden.[64] Im November 2007 feiert sie den ersten Jahrestag der permanenten Straßensperrung am Arroyo Verde.[65]
Der uruguayischen Regierung, deren Gesuch nach Präventivmaßnahmen vom IGH abgelehnt wird, fehlt es schlichtweg an Rechtsmitteln, um eine Aufhebung der Blockaden oder eine Entschädigung zu erwirken.[66] Sie verhandelt stattdessen weiter mit der argentinischen Regierung unter Vermittlung des spanischen Königs, während die Bauarbeiten auf der Botnia-Baustelle kontinuierlich voranschreiten. Sie beendet diese Gespräche aber mit einem lauten Knall, als Vázquez, während seiner Teilnahme am Iberoamerikanischen Gipfel am 8. November 2007 in Chile, telefonisch die Inbetriebnahme der Botnia-Fabrik genehmigt – und zwar ohne den ebenfalls anwesenden argentinischen Präsidenten vorab darüber zu informieren. Dem Mediator des spanischen Königs, Botschafter Juan Antonio Yáñez, lässt er vor dem Telefonat eine Karte unter der Tür durchstecken. Da dieser die Mitteilung jedoch übersieht, erfährt auch Spanien erst von der Genehmigung, als die Entscheidung bereits öffentlich bekannt ist. Kirchner richtet sich daraufhin vor den versammelten Staatsoberhäuptern an den König und bittet ihn um Entschuldigung, ihn in die Verhandlungen involviert zu haben.[67] Schon einen Tag später nimmt Botnia die Zellstoffproduktion auf, begleitet von einer massiven, aber friedlichen Demonstration auf argentinischer Seite.[68] Im Konflikt um die Zellstofffabriken steht man nun vor vollendeten Tatsachen: Gualeguaychú blockiert, Botnia produziert und alle Augen richten sich auf den IGH.
Dieser fällt sein Urteil zweieinhalb Jahre später. Die Asamblea hält ihre Blockade am Arroyo Verde über den gesamten Zeitraum hinweg aufrecht; das Verhältnis zwischen Argentinien und Uruguay, wo jetzt Cristina Fernández de Kirchner (wie ihr Ehemann Néstor vom peronistischen Frente para la Victoria) und José Mujica (wie Vázquez vom Frente Amplio) regieren, entspannt sich unterdessen aber wieder.
Die Live-Übertragung der Urteilsverkündung verfolgt die Asamblea am 20. April 2010 am Arroyo Verde. Als das Gericht erklärt, dass Uruguay es versäumt habe, die gemeinsame Verwaltungsbehörde des Flusses rechtzeitig über den Bau der beiden Zellstofffabriken zu informieren, und dass während der ersten Verhandlungen im Rahmen der GTAN auch keine Baugenehmigungen hätte erteilet werden dürfen, brandet Jubel auf: Uruguay, so ist nun höchstrichterlich bestätigt, hat gegen seine prozeduralen Pflichten aus dem Statut des Río Uruguay verstoßen.[69] Die Freude ebbt aber schnell wieder ab und wandelt sich in Wut und Verzweiflung. Denn hinsichtlich der substantiellen Pflichten aus dem Statut kann das Gericht keine Verletzung feststellen. Argentinien habe weder nachweisen können, dass das Nachbarland unzureichende Umweltschutzmaßnahmen getroffen habe, noch dass der Betrieb der Zellstofffabriken sich negativ auf die Wasserqualität des Río Uruguay auswirke. Darüber hinaus urteilt das Gericht, dass der prozeduralen Pflichtverletzung Uruguays mit der Feststellung des Unrechts Genüge getan sei: Botnia darf also weiterproduzieren.[70]
Mujica und Fernández de Kirchner akzeptieren dieses salomonische Urteil und treffen sich kurz darauf, um die Details des vom Gerichtshof geforderten gemeinsamen Monitorings des Flusses zu besprechen. Die Asamblea dagegen möchte sich nicht geschlagen geben. Am 25. April organisiert sie ihren jährlichen Abrazo al Río auf der Brücke General San Martín, an dem weiterhin Tausende Menschen teilnehmen.[71] Während sich die „Umarmung des Flusses“ in den Vorjahren in eine rein argentinische Protestveranstaltung transformiert hatte, kommen nun auch wieder Menschen vom uruguayischen Ufer – allerdings nicht, um gegen die Fabriken, sondern gegen die Sperrung der Nationalstraße 136 zu demonstrieren.[72] Die Asamblea hält an dieser Blockade auch nach der Urteilsverkündung fest, obwohl dazu selbst in Gualeguaychú nun auch kritische Stimmen laut werden.[73] Die Bürgerinitiative gibt erst auf, als die argentinische Regierung Anzeige gegen zehn ihrer Mitglieder erstattet – unter anderem wegen Verkehrsbehinderung, Widerstands gegen die Staatsgewalt und fahrlässiger Tötung (ein Argentinier war durch einen Autounfall bei der Blockade ums Leben gekommen).[74] Am 19. Juni 2010 beendet die Asamblea daraufhin ihre permanente Blockade am Arroyo Verde, die zu diesem Zeitpunkt 1362 Tage Bestand hatte.[75] Die Klagen gegen die zehn Mitglieder der Asamblea werden später abgewiesen.[76]
Den Konflikt um die Zellstofffabriken können Mujica und Fernández de Kirchner derweil nicht lösen. Zwar einigen sie sich im Juli 2010 auf das vom IGH geforderte gemeinsame Monitoring des Flusses im Rahmen der CARU, die ihre Arbeit im darauffolgenden Oktober aufnimmt.[77] Jedoch verhindert die argentinische Regierung die Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse der Kommission, so dass die Frage, welche Auswirkungen der Betrieb der Botnia-Fabrik auf die Umwelt hat, bis heute strittig ist.[78] Und als die uruguayische Regierung im Juni 2013 ankündigt, dass die Produktion des Werks auf 1,3 Millionen Tonnen pro Jahr gesteigert werden soll, tritt der argentinische Außenminister Héctor Timerman vor die Presse und erklärt, dass Argentinien eine solche Produktionserhöhung keinesfalls akzeptieren und im Falle einer unilateralen Entscheidung erneut vor den IGH ziehen werde.[79] Als Mujica kurz darauf nach Buenos Aires reist, kommt es zu einer emotionalen Auseinandersetzung mit der argentinischen Präsidentin, in der harte Worte fallen.[80] Er genehmigt im September schließlich eine Anhebung der Produktion auf 1,2 Millionen Tonnen, woraufhin Argentinien eine Protestnote einreicht und Teile eines Untersuchungsberichts veröffentlicht, dem zufolge Botnia den Fluss verschmutzt.[81] Für Uruguay handelt es sich dabei um eine „diplomatische Schikane“: Die von Außenminister Timerman zitierten Ergebnisse beruhten nicht auf Proben aus den Abwässern der Fabrik, sondern auf Proben aus dem Fluss, der durch andere Quellen verschmutzt sei. Die von Argentinien zurückgehaltenen CARU-Berichte würden eindeutig zeigen, dass von der Botnia-Fabrik keine negativen Wirkungen auf die Umwelt ausgingen.[82]
Ein Ende des Konflikts um die Zellstofffabriken scheint sich erst unter den aktuellen Präsidenten anzubahnen: dem erneut ins Amt gewählten Tabaré Vázquez und Mauricio Macri vom konservativ-liberalen Parteienbündnis Cambiemos. Nach einem ersten Treffen im Januar 2015, auf dem nicht nur eine gemeinsame Bewerbung für die Fußballweltmeisterschaft, sondern auch die Schaffung eines gemeinsamen Labors zur Überwachung der Wasserqualität des Río Uruguay beschlossen wurde, kündigte Vázquez im August dieses Jahres den Bau einer weiteren Zellstofffabrik im Inland Uruguays an, deren Abwässer schlussendlich aber auch in den Río Uruguay münden. Laut Vázquez sei Macri darüber informiert; es werde keine Probleme geben.[83] Zudem scheint es, als habe man sich auf eine Veröffentlichung der mittlerweile 62 Untersuchungsergebnisse der CARU geeinigt.[84] Der für den 24. April 2016 geplante Abrazo al Río der Asamblea fiel unterdessen aufgrund schlechten Wetters ins Wasser.
Der Konflikt um die Zellstofffabriken zwischen Argentinien und Uruguay dauert seit mehr als vierzehn Jahren an, wenn er auch seinen Zenit mit der Entscheidung des IGH überschritten hat. Er entwickelte sich in diesem Zeitraum für beide Seiten zu einer diplomatischen Krise und beschäftigte insgesamt drei argentinische und drei uruguayische Staatsoberhäupter, einen europäischen Monarchen und vier internationale Organisationen. Für diese beispiellose Eskalation eines für Südamerika typischen Konflikts um die Auswirkungen eines großen Investitionsprojekts im Rohstoffsektor auf die Umwelt gibt es verschiedene Gründe – zuallererst den Standort der Fabrik an einem Grenzfluss. Alle Vorteile des Vorhabens und alle Entscheidungsgewalt konzentrieren sich am uruguayischen Ufer, während die argentinische Seite nur mit seinen Nachteilen konfrontiert ist und es auf demokratischem Wege nicht beeinflussen kann. Diese Diskrepanz ist Quelle eines hohen Mobilisierungspotentials in Argentinien, das durch die unmittelbare Sichtbarkeit der Bedrohung – die ständig wachsende Industrieanlage am anderen Ufer – noch verstärkt wird. Die uruguayische Regierung übersieht dieses Potential, als sie die heute fahrlässig wirkende Entscheidung trifft, den Bau von gleich zwei Zellstoffwerken bei Fray Bentos zu genehmigen.
Ein weiterer Grund für die Eskalation des Konflikts liegt in der Reaktion der argentinischen Regierung, die sich die Position der Asamblea zu eigen macht und in der Folge nichts unversucht lässt, um die Fertigstellung der Fabriken zu verhindern. Dieser Schulterschluss ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass Néstor Kirchner es sich in Anbetracht nahender Wahlen politisch nicht leisten möchte, die Forderungen einer aufstrebenden und von der Mittelschicht getragenen Umweltbewegung zu ignorieren, während Argentinien zugleich keinerlei Nutzen von dem Bau der Fabriken hat. Im Gegenteil: Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Errichtung der beiden Industrieanlagen am anderen Ufer des Flusses eine Niederlage im Wettbewerb um Auslandsinvestitionen, denn auch Argentinien fördert seit Jahren die industrielle Forstwirtschaft und die forstwirtschaftlich genutzte Fläche ist dort mehr als doppelt so groß wie in Uruguay. Zugleich verfügt Argentinien selbst über zehn Zellstofffabriken, die mit veralteter und stark umweltschädigender Technologie operieren.[85] Ein genuines Interesse am Umweltschutz kann die argentinische Regierung im Hinblick auf Botnia also nicht für sich reklamieren. Eher muss sie sich den Vorwurf von Doppelstandards gefallen lassen. Trotz zahlreicher Umweltskandale im Land ist der Umweltschutz zu Beginn des Konflikts weder für die argentinische Gesellschaft noch für die argentinische Politik ein wichtiges Thema.[86] Da die Regierung in Buenos Aires die Maximalforderungen der Asamblea übernimmt und sogar zu einem der Wahlkampfthemen macht, wird aus einem für den Rohstoffsektor alltäglichen Konflikt zwischen Betroffenen auf der einen und Unternehmen auf der anderen Seite ein Konflikt zwischen zwei Staaten, in dem nicht mehr nur die Umwelt, sondern auch die nationale Souveränität eine Rolle spielt. Auf beiden Seiten des Flusses gewinnt nun eine auf der nationalen Zugehörigkeit basierende Wir-gegen-sie-Konstruktion an Bedeutung, die innere Differenzen überlagert und dafür sorgt, dass sich die Reihen hinter den beiden Präsidenten schließen. Zugleich wird aus dem Konflikt ein Nullsummenspiel: Für Kirchner ist jedes andere Ergebnis als der Stopp der beiden Bauvorhaben eine Niederlage. Vázquez, auf der anderen Seite, kann einen solchen Ausgang der Konfrontation aufgrund der Größe der beiden Investitionsvorhaben, ihrer Rolle in der nationalen Forstpolitik, drohender Entschädigungszahlungen sowie der Bedeutung eines Scheiterns für zukünftige Auslandsinvestitionen auf keinen Fall zulassen. Darüber hinaus kann er der uruguayischen Öffentlichkeit ein solches Einknicken gegenüber dem größeren Nachbarn auch nicht vermitteln. Mit dieser Ausgangsposition ist der Boden für die Eskalation des Konflikts bereitet.
Der Motor dieser Eskalation ist ohne Zweifel die Asamblea de Gualeguaychú, die zwei verschiedene Formen der Aneignung von Raum für sich nutzt. Der Abrazo al Río Uruguay ist in erster Linie ein Instrument, um Öffentlichkeit herzustellen. Mit ihm schafft die Bewegung ein wirkmächtiges Symbol für den Konflikt, das große Aufmerksamkeit in den Medien erfährt und das die argentinische Regierung dazu bewegt, sich an ihre Spitze zu stellen, den Streit über die Fabriken zur nationalen Angelegenheit zu erheben und die Forderungen der Asamblea zu übernehmen. Überdies ist die sich jährlich wiederholende Demonstration auf der Brücke auch ein Ritual zur Integration und Verstetigung der Bewegung.
Die zweite Form der Aneignung von Raum durch die Asamblea ist die Blockade der Zufahrtsstraße zur Brücke am Arroyo Verde. Diese Strategie hat in Argentinien eine lange Tradition und wird dort Piquete (dt. „Streikposten“) genannt. Die ersten Piquetes finden in den 1990er Jahren statt und werden von ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeitern organisiert, die im Zuge der neoliberalen Politik der argentinischen Regierung und der darauffolgenden Deindustrialisierung arbeitslos geworden sind. Die Protestierenden verlagern den Widerstand von den Werkshallen auf die Straße und besetzen Kreuzungen und Zufahrtswege zu Fabriken, um die Zirkulation von Arbeitskräften und Waren zu behindern und so ihren Forderungen nach Arbeitsplätzen, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen Geltung zu verschaffen.[87] Als die argentinische Schuldenkrise im Dezember 2001 ihren Höhepunkt erreicht und Massenproteste ausbrechen, dienen diese Piquetes der wütenden Mittelschicht überall im Land als Modell für die Besetzung von Plätzen, Straßen und Parks.[88] Argentinien ist zu dieser Zeit ein Laboratorium neuer Formen der kollektiven Aktion:[89] In allen großen Städten entstehen basisdemokratische Stadtteilverwaltungen, die Protestveranstaltungen und Suppenküchen organisieren, verlassene Fabriken werden besetzt und in Kooperativen umgewandelt und sogenannte Kochtopfdemonstrationen (cacerolazos), bei denen Menschen mit Töpfen und Pfannen lärmend auf ihre Not aufmerksam machen, prägen das Straßenbild.[90]
Die erstaunlich wirkende Tatsache, dass Menschen aller Altersklassen aus der Mittelschicht, ja ganze Familien, über Jahre hinweg die Zufahrtsstraße zu der Brücke über den Río Uruguay besetzen, ist auch vor dem Hintergrund dieser Krisenerfahrung zu betrachten. Im Unterschied zum Abrazo al Río Uruguay richtet sich die Blockade nicht an die argentinische, sondern an die uruguayische Regierung. Und sie ist auch kein Instrument der Überzeugung, sondern der Zwangsausübung. Zunächst trägt sie die klassischen Züge der direkten Aktion: Es geht darum, die Zulieferung von Baumaterial an die Fabriken zu behindern. Im Verlauf des Konflikts rücken aber mehr und mehr die indirekten Wirkungen der Blockade in den Fokus: Sie soll wirtschaftlichen Schaden auf Seiten der unbeteiligten uruguayischen Bevölkerung anrichten, um so die Regierung in Montevideo zum Einlenken zu bewegen. Diese Strategie scheint zunächst aufzugehen: Die ersten Straßensperren bewegen Uruguay zu einer Rückkehr an den Verhandlungstisch, an dem Kirchner, der zu dieser Zeit noch auf die Asamblea einwirken kann, nun etwas anzubieten hat. Am Ende kann diese Strategie die uruguayische Regierung aber nicht von der Errichtung der Fabriken abbringen und wirkt sich kontraproduktiv auf die Bemühungen um eine Beilegung des Streits aus: Präsident Vázquez macht die Aufhebung der Blockaden zur Bedingung für Gespräche, eine Forderung, der nachzugeben Präsident Kirchner die Bürgerinitiative in Anbetracht der voranschreitenden Arbeiten auf der Baustelle des Botnia-Werks nicht überzeugen kann. Als die Asamblea dann zur permanenten Sperrung der Straße aufruft, distanziert sich die argentinische Regierung von der Protestbewegung. Zu einer gewaltsamen Auflösung ist sie allerdings nicht bereit, denn Zwangsräumungen gelten in Argentinien sehr schnell als unverhältnismäßig repressiv und die Erfahrung zeigt, dass die Polizei beim Vollzug dieser Maßnahme sehr leicht außer Kontrolle gerät. Stattdessen nimmt sie lieber ein getrübtes Verhältnis zu Uruguay in Kauf und wartet ab. Als Ermüdungserscheinungen sichtbar werden, sowohl auf Seiten der betroffenen Bevölkerung als auch auf Seiten der Bewegung, die sich auf den harten Kern reduziert, löst Buenos Aires das Problem auf juristischem Wege, indem sie den Protest kriminalisiert.
Wer sind die Gewinner und Verlierer nach vierzehn Jahren Konflikt? Das Unternehmen Botnia stellte seine Produktionsanlage gegen alle Widerstände zügig fertig und konnte sie anschließend gewinnbringend verkaufen. Uruguay setzte seinen Kurs konsequent durch und verfügt mittlerweile über zwei moderne Zellstoffwerke am Río Uruguay, auf Kosten einer über lange Jahre belasteten Beziehung mit seinem Nachbarn. Diesen Preis musste auch Argentinien zahlen, das in der Auseinandersetzung auf internationaler Ebene nicht immer eine gute Figur machte, aber immerhin eine der beiden Produktionsanlagen verhindern und eine direkte Konfrontation mit der lokalen Protestbewegung vermeiden konnte. Diese muss nun mit einer Fabrik in der direkten Nachbarschaft leben. Der Protest der Asamblea Ciudadana Ambiental de Gualeguaychú markiert aber den Beginn der Umweltbewegung in Argentinien, das nun auch über ein entsprechendes Ministerium verfügt, und kulminierte in einem Urteil des IGH, welches das internationale Umweltrecht gestärkt hat. So ist die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung bei wirtschaftlichen Aktivitäten mit grenzüberschreitenden Risiken seither eine explizite Verpflichtung des Völkerrechts. In Fray Bentos ist es nach einem kurzzeitigen wirtschaftlichen Aufschwung während der Bauarbeiten wieder ruhig geworden. Und der Río Uruguay ist nach wie vor verschmutzt – Ursache unklar.