Protest als Forderung nach politischer Partizipation
Am 1. August 2016 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Volksrepublik China auf seinem offiziellen Weibo[1]-Account ein ultranationalistisches Video, das vor der Gefahr extern unterstützter »Farbrevolutionen« warnt. Es reiht emotionsgeladene Bilder aneinander, die vor allem das Leid von Kindern bei gewalttätigen Konflikten im Irak, in Syrien, in der Ukraine und der Türkei zeigen. Als Gegensatz dazu wird ein friedliches und stabiles China präsentiert, in dem (noch) Ordnung herrscht und die meisten Menschen ein »einfaches, aber glückliches Leben führen«.[2] Weiter heißt es im Video, trotz der Stärkung des eigenen Militärs sei »der Nebel der internen Probleme und der externen Einmischungen nicht vom Himmel über China verschwunden«.[3] Als Bedrohungen angeführt werden unter anderem die »separatistischen Bewegungen« in Taiwan, Tibet, Xinjiang und Hongkong sowie Dissidenten, Anwälte und andere »Agenten des Westens«, die Chinas nationale Stabilität und Harmonie untergraben würden. An verschiedenen Stellen des Videos heißt es, dass Aktionen dieser Gruppen meist von den USA – als Anführer der westlichen Mächte – unterstützt würden. Dieses Argumentationsmuster ist nicht neu. Die Redewendung »interne Probleme und externe Einmischung« (chin. nei you wai huan) ist fester Bestandteil der chinesischen Sprache und wird in der politischen Berichterstattung häufig aufgegriffen.[4]
Bemerkenswert an dem Video sind eher zwei andere Aspekte. Zum einen wurde es von einem chinesischen Doktoranden der Australian National University, Lei Xiying, in Zusammenarbeit mit Dujia Media[5] produziert. Es ist äußerst ungewöhnlich, dass ein Video dieser Art von einer offiziellen chinesischen Behörde gepostet wird. Deshalb lässt sich annehmen, dass sein Inhalt eine offizielle Sichtweise widerspiegelt. Entsprechend fielen die Reaktionen auf den Clip aus: Zwischen dem Produzenten und der chinesischen Regierung wurde nicht differenziert.[6]
Zum anderen taucht im Video zwei Mal das Bild des Hongkonger Aktivisten Joshua Wong auf, der für viele das Gesicht der Regenschirmproteste von 2014 darstellt.[7] Das erste Mal erscheint er in Verbindung mit der »Separatistenbewegung Hongkongs«[8]. Zwar haben während der Regenschirmproteste und auch im Vorfeld der Legislativratswahlen von September 2016 radikalere Gruppierungen immer wieder Hongkongs Unabhängigkeit von China verlangt. Doch Joshua Wong selbst und seine im April 2016 gegründete Partei »Demosisto« unterstützen diese Forderung nicht direkt.[9] Für Wong steht bis heute das Recht auf Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Es geht ihm darum, dass die Bürger von Hongkong die Möglichkeit haben, über die Zukunft der Stadt selbst zu bestimmen. Das zweite Bild zeigt einen Ausschnitt aus der Hongkonger Pro-Peking-Zeitung »Wen Wei Po« vom 25. September 2014, die in dieser Ausgabe Joshua Wongs »US-Hintergrund« thematisierte.[10] Im Video heißt es hier, dass westliche Mächte, angeführt von den USA, Demonstrationen für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit unterstützten, um so Regierungen zu stürzen. Unterstellt wird folglich, Joshua Wong sei nur eine Marionette Amerikas, die China schaden solle.[11]
Auch wenn Hongkong nicht das Hauptthema des Videos darstellt, ist von Bedeutung, dass die Regenschirmbewegung, hier repräsentiert durch Joshua Wong, in einer Reihe mit »Separatistenbewegungen« auftaucht. Denn Protestgruppen in Hongkong waren zuvor nicht auf eine Stufe mit den sogenannten Unabhängigkeitsbewegungen in Tibet, Xinjiang oder Taiwan gestellt worden. Die Regenschirmbewegung hat dies nachhaltig verändert.
Seither wird die politische Situation in Hongkong von der chinesischen Führung sehr genau beobachtet. Dies wurde auch bei der letzten Wahl des Regierungschefs im März 2017 deutlich. Bereits im Vorfeld ließ die Zentralregierung keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihre Wunschkandidatin Carrie Lam (die bisherige Verwaltungschefin) vom pekingfreundlichen Wahlkomitee gewählt würde.[12] Da ein Hauptziel der Regenschirmbewegung darin bestand, in Hongkong eine direkte und allgemeine Wahl des Regierungschefs einzuführen, konnte dieser Vorgang als klare Niederlage der Aktivistinnen und Aktivisten betrachtet werden. Dies würde jedoch zu kurz greifen. Denn die Regenschirmbewegung und die politischen Gruppierungen, die aus ihr hervorgingen, haben es geschafft, die Frage nach Hongkongs politischer Zukunft wieder langfristig ins Zentrum der innergesellschaftlichen Debatte zu rücken. Dabei markieren die Proteste der Bewegung paradoxerweise den Moment der höchsten Autonomie, den Hongkong seit seiner Übergabe an die VR China im Jahr 1997 erlebt hat.
Die Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China ist ein einzigartiges Gebilde in der Weltpolitik. Hongkong besitzt zwar keine politische Souveränität, dafür aber einen »hohen Grad an Autonomie« (Artikel 2, Basic Law) gegenüber China. Bereits in der Sino-British Joint Declaration[13] von 1984 wurde diese Konstruktion festgeschrieben. Sie sollte gewährleisten, dass Hongkongs kapitalistisches System nach der Übergabe an die VR China am 1. Juli 1997 für einen Zeitraum von 50 Jahren – bis zum 30. Juni 2047 – weiterbestehen kann.[14] Seit 1997 ist Hongkong somit offiziell ein Teil Chinas, in dem eingeschränkte demokratische Rechte gelten, die im »Basic Law«, der Hongkonger Mini-Verfassung, festgeschrieben sind. Dazu gehören auch Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit (Artikel 27).
Aufgrund dieser spezifischen Umstände hat sich in Hongkong eine lebendige Protestkultur herausbilden können. Hongkong ist der einzige Ort auf chinesischem Territorium, an dem etwa regelmäßig Gedenkfeiern zum Jahrestag der Vorfälle auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 stattfinden oder Menschen für mehr Demokratie auf die Straße gehen.[15] Seit 1997 thematisieren viele dieser Proteste konkret die politische Zukunft Hongkongs; es werden demokratische Reformen oder mehr Autonomie gegenüber der VR China gefordert.[16]
Die Proteste im Rahmen der Regenschirmbewegung vom 26. September bis zum 15. Dezember 2014 waren inhaltlich ähnlich ausgerichtet. 2007 hatte der Nationale Volkskongress Chinas festgelegt, dass die Wahl des Hongkonger Regierungschefs 2017 die erste sein sollte, die auf Grundlage von Artikel 45 des Basic Law durchgeführt würde. Dieser Artikel formuliert als Ziel, dass die Regierungschefin bzw. der Regierungschef über eine allgemeine Direktwahl bestimmt wird, wobei die Kandidatinnen und Kandidaten durch ein repräsentatives Nominierungskomitee »im Einklang mit demokratischen Verfahrensweisen« benannt werden. 2004 hatte die chinesische Führung bereits einen Fünf-Stufen-Plan beschlossen, der vorsah, den Entwurf für eine Wahlrechtsreform zu erarbeiten und Konsultationen innerhalb der Hongkonger Gesellschaft abzuhalten. In diesem Zusammenhang organisierte die Gruppierung »Occupy Central with Love and Peace« (OCLP)[17] eine Reihe von zivilen Aktionen, Beratungen und Debatten, an denen sich verschiedene gesellschaftliche Zusammenschlüsse beteiligten. Diese Akteure initiierten ferner ein inoffizielles Referendum, bei dem im Juni 2014 drei Vorschläge zur Wahlrechtsreform, eingebracht von unterschiedlichen demokratischen Lagern, zur Abstimmung standen.[18] Alle Vorschläge betonten die Möglichkeit, die Kandidaten zur Wahl des Regierungschefs bzw. der Regierungschefin öffentlich zu nominieren. Diese Forderung gilt jedoch auf chinesischer Seite seit jeher als unvereinbar mit Artikel 45. Das Referendum wurde denn auch von Peking und pekingnahen Gruppen in Hongkong stark kritisiert.[19]
Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses entschied daher am 31. August, dass zwei bis drei Kandidatinnen und Kandidaten, die mehr als die Hälfte der Stimmen des Nominierungskomitees erhalten würden, zur Wahl stehen sollten und dann von den Hongkongern direkt gewählt werden könnten.[20] Mit dieser Position unterstrich Peking, am Status quo in Hongkong festhalten zu wollen. Zwar sollte eine allgemeine Direktwahl eingeführt werden, doch mit der Zusammensetzung des Nominierungskomitees war gewährleistet, dass die Hongkonger Bevölkerung im Grunde nur chinafreundliche Kandidatinnen und Kandidaten wählen konnte. Dies war der unmittelbare Anlass für die Proteste, die unter Federführung von OCLP zunächst erst für den 1. Oktober 2014 angekündigt waren.[21] Die Ereignisse überschlugen sich aber, als Gruppen von Studierenden, allen voran die »Hong Kong Federation of Students« und »Scholarism«, bereits ab dem 26. September 2014 Teile des Bezirks Admiralty in unmittelbarer Nähe des Regierungsbezirks von Hongkong besetzten.
Das Design der Regenschirmproteste steht in enger Verbindung mit Demonstrationen, die während der letzten Jahre weltweit auf Straßen und öffentlichen Plätzen verschiedener Städte abgehalten wurden.[22] Saskia Sassen bezeichnet dieses Phänomen als die Politisierung der globalen Straße.[23] Demnach finden Demonstrationen und Proteste immer weniger an den dafür vorgesehenen[24] bzw. den zuvor angemeldeten Orten statt. Aktivisten eignen sich vielmehr Straßen und öffentliche Plätze aktiv an, besetzen sie und durchbrechen damit die bekannte, ritualisierte Choreographie von Protesten.[25] In Anlehnung an Henri Lefebvres These zur Produktion von Raum durch soziale Interaktion lässt sich zudem argumentieren, dass die Protestierenden einen neuen, alternativen politischen Raum der Öffentlichkeit schaffen. Denn Straßen und Plätze sind Orte, denen eigentlich schon eine bestimmte Bedeutung im öffentlichen Leben, etwa als Verkehrsader, Grünanlage oder Marktstätte, zugeschrieben wird und die unter dem Schutz des Staates – also der öffentlichen Gewalt – stehen. Protestierende gestalten diese Orte um. Damit geben sie Straßen und Plätzen eine neue räumliche wie politische Bedeutung. Sie artikulieren ihren eigenen Raum (in Abgrenzung zu bestehenden Räumen) und erinnern daran, dass es nicht die eine Vorstellung von Öffentlichkeit gibt, sondern immer eine Konkurrenz von verschiedenen Vorstellungen. Öffentlichkeit ist somit kein klar definiertes Konzept, insbesondere kein Konsensraum, sondern ein Dissensraum.[26]
Bei Protestbewegungen, die sich im Design an der Occupy-Bewegung orientieren, ist die Umgestaltung des öffentlichen Raumes in der Regel langfristig sichtbar. Durch die Aktivitäten der Protestierenden werden Orte im öffentlichen Raum zum Ausdruck und oftmals auch zu einem Icon des politischen Anliegens.[27] Dies hat zur Folge, dass die Erwähnung von Plätzen wie Tahrir, Taksim oder Maidan wie auch die Bezeichnung Occupy unmittelbar eine politische Bedeutung miteinschließt. Sie repräsentieren gleichzeitig Raum und Politik. Mittels des spezifischen Designs schaffen die Protestierenden einen sichtbaren – später oftmals dann auch ikonisierten – Gegenraum zum politischen Establishment. Peter Marcuse hat dies mit Blick auf die klassische Occupy-Bewegung treffend zusammengefasst, wenn er schreibt: »When space is occupied by the movement, it gives it a physical presence, a locational identity, a place that can be identified with the movement that visitors can come to, and where adherents can meet.«[28]
In der Durchführung ihrer Proteste folgte die Regenschirmbewegung vor allem dem Design der globalen Occupy-Bewegung.[29] Sie besetzte unter anderem Teile von Admiralty im Distrikt Central and Western auf Hongkong Island. Admiralty repräsentiert in vieler Hinsicht das typische Hongkong. Hier befinden sich große Bankfilialen, Einkaufszentren, aber auch die wichtigsten Regierungsgebäude und in unmittelbarer Nähe das Hauptquartier der chinesischen Volksbefreiungsarmee. Darüber hinaus ist die Connaught Road in Admiralty eine der Hauptverkehrsadern auf Hongkong Island.
Die Regenschirmbewegung baute genau an diesem Ort ein riesiges Zeltlager mit gut funktionierender und selbstorganisierter Infrastruktur auf, die bis zur Räumung immer weiter perfektioniert wurde. Wenn (politische) Ordnung im Raum sichtbar wird, wie im Fall von Admiralty, dann sind die Proteste der Regenschirmbewegung eine für alle sichtbare Intervention gegen die bestehende Ordnung. Die Zelte, die Versorgungsposten, das Bepflanzen der öffentlichen Grünanlangen, die mobilen Klassenzimmer, die Bühnen, das Umfunktionieren öffentlicher Toiletten, die Protestkunst – all diese Elemente zeigen, wie die Regenschirmaktivisten ihr politisches Anliegen auch in räumlicher Gestaltung, und zwar durch Schaffung eines alternativen Hongkong, sichtbar machen konnten. So scheint „die ›Demonstration des Dissens, als das Vorhandensein zweier Welten in einer einzigen‹ gerade räumlich besonders plastisch und greifbar zu werden“.[30]
Die Protestierenden haben Admiralty in vielfacher Weise umfunktionieren und ihren Bedürfnissen anpassen müssen. So wurden etwa Treppen über die Beton-Leitplanken zwischen den beiden Straßenseiten gebaut. Diese Konstruktionen bestanden aus Dingen, die leicht zu transportieren waren – wie Paletten, Bambusrohre oder Holzplatten. Die Bewohner und Besucher der Zeltstadt konnten sich auch über die vorhandenen Barrieren hinweg bewegen und zügig den gesamten Protestraum erschließen. Auffällig ist, wie häufig der Raum mit alltäglichen Dingen umgestaltet wurde. Es handelte sich dabei vor allem um Gegenstände, die von Einzelpersonen gut getragen werden konnten. Dies war auch bei den Barrieren zu erkennen, die errichtet wurden, um Fahrzeugen den Zugang zum Zeltlager zu versperren oder zu erschweren. Neben diesen räumlichen Anpassungen perfektionierten die Aktivisten mit der Zeit auch die Protestlogistik. Es gab in ganz Admiralty sogenannte Ressourcen-Stationen, an denen Wasservorräte, Regenschirme, Masken, Helme, Plastikhandschuhe, Planen und anderes bereitlagen. Damit wollte man für den Fall einer spontanen Protestaktion gerüstet sein. Diese Ressourcen waren zuvor meist an den verschiedenen Universitäten der Stadt, etwa der University of Hongkong, gesammelt worden.
Zur Umgestaltung einer mehrspurigen Straße in eine nicht nur funktionierende, sondern auch lebenswerte Zeltstadt gehörte auch die Veränderung der wenigen Grünflächen. Dies entsprach einem generell sehr nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen vor Ort. Es ist auffällig, wie ordentlich, sauber und gepflegt die Protestorte waren (unter anderem die öffentlichen Toiletten in Admiralty). In einer Stadt wie Hongkong ist Lebensraum Luxus; viele der Protestierenden leben entweder in Studentenwohnheimen oder noch bei ihren Eltern. Die Zeltstadt war somit auch Sinnbild eines erkämpften Freiraums, den es so weder im Elternhaus noch im Wohnheim gibt. In einer nicht nur dicht besiedelten, sondern auch eng bebauten Stadt wie Hongkong sind Bepflanzung und Pflege der Grünflächen daher besonders zu beachten. Es wurden kleine Blumengärten angelegt, und immer wieder griff man künstlerisch das Motiv des Regenbogens auf. So wurde die politische Vorstellung im Raum sichtbar, während Grünanlagen auf einer mehrspurigen Straße von Autofahrern und Passanten in der Regel keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Viele der Demonstrierenden waren Schülerinnen und Schüler oder Studierende. In den ersten Wochen der Proteste solidarisierten sich Lehrkräfte und Dozierende mit den Aktivisten. Nach einiger Zeit wurde deutlich, dass vor Ort Bereiche zu schaffen waren, an denen die Demonstranten ungestört lernen und arbeiten konnten. Daher errichtete man Großraumzelte mit Tischen und Stühlen, später sogar kleine Bibliotheken, damit sich Hausaufgaben oder Universitätsarbeiten erledigen ließen. Hier hatten Besucherinnen und Besucher von Admiralty auch nur eingeschränkt Zugang. Außerdem sollte in diesem Bereich nicht mit Blitzlicht fotografiert werden.[31] An anderen Protestorten entstanden gleich zu Beginn der Aktivitäten mobile Demokratie-Klassenräume. Dies geschah in Causeway Bay an der Nordseite von Hongkong Island und in Mongkok auf der Halbinsel Kowloon. So kamen etwa Professorinnen und Professoren nach Causeway Bay, um mit ihren Studierenden zu diskutieren, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Wochen den Lehrbetrieb boykottiert hatten.[32] Später wurden diese mobilen Klassenräume von anderen Unterstützerinnen und Unterstützern der Regenschirmbewegung genutzt, meist für Rede- und Diskussions-Sessions, die ad hoc stattfanden.
Eine Besonderheit der Regenschirmbewegung ist die künstlerische Kreativität, die sich vor allem in den Zeltstädten von Causeway Bay und Admiralty entwickelte. Schon bei den verschiedenen Occupy-Bewegungen oder auch während der Proteste des Arabischen Frühlings ließ sich beobachten, wie die Protestkunst aufblühte.[33] In Hongkong fiel die Fülle an gemeinsam produzierten Kunstobjekten auf. Es waren zunächst vor allem gewöhnliche Menschen (ordinary people), die sich an der Protestkunst beteiligten. Vielfältig aufgegriffen wurde dabei das Bild des Regenschirms, das sich in den ersten Wochen der Proteste als Icon der Bewegung herauskristallisierte, nachdem die Polizei mit Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen war. Neben unzähligen Plakaten und Zeichnungen wurde meist direkt vor Ort auch »Protestschmuck« hergestellt, darunter Armbänder, Halsketten, gelbe Schleifen, bedruckte bzw. selbstbeschriftete T-Shirts oder selbstgebastelte Karten. Interessant ist ebenfalls, dass oft mit einfachsten, alltäglichen Mitteln – und auch hier war die Verwendung von Regenschirmen omnipräsent – die Protestorte »verschönert« wurden. Ein bemerkenswertes Beispiel für die Schaffung von Artefakten durch »ordinary people« während der Regenschirmproteste ist die sogenannte »Lennon Wall«.[34] Eine lange Treppe, die zu den Gebäuden der Hongkonger Regierung führt, wurde von Besuchern und Protestierenden in den vielen Wochen der Besetzung von Admiralty in eine riesige Informationstafel umfunktioniert. Tausende von bunten Post-it-Notizen, Unterstützungsbekundungen in vielen Sprachen, dazu Zeichnungen und Karikaturen wurden von den unterschiedlichsten Personen an die Wand geklebt. So entstand ein Bild der Vielfalt, Kreativität und Hoffnung für Hongkongs politische Zukunft. Zudem war die Lennon Wall insofern charakteristisch für die Kunst der Regenschirmbewegung, als viele Artefakte konkrete Ereignisse der Proteste – so die Tränengas-Angriffe – oder auch politische Themen wie Chinas Einfluss auf Hongkong dokumentierten. Die verschiedenen Slogans und visuellen Darstellungen wurden vielfach aufgegriffen und kopiert, etwa auf Stickern, die verteilt wurden. Damit übernahm man, oftmals sicher intuitiv, bekannte Methoden der Street-Art.
Allerdings haben die Regenschirmproteste auch lokale Künstlerinnen und Künstler inspiriert.[35] Besonders einprägsam war etwa die Errichtung der drei Meter hohen Statue »Umbrella Man« des Hongkonger Künstlers Milk.
Dieser befestigte unzählige Sperrholzstückchen an einem Metallgerüst. Das Konstrukt stellt eine Person dar, die einen gelben Regenschirm in der ausgestreckten rechten Hand hält. Das Gesicht der Figur ist im Unterschied zum Körper weiß. Der »Umbrella Man« verbindet zwei Elemente der frühen Proteste:[36] die von Tränen- und Pfeffergas geweißten Gesichter der Demonstrierenden und den Regenschirm, der sich in diesen ersten Wochen als Icon der Bewegung etablierte. Ein weiteres Beispiel ist die Installation Stand By You: Add Oil Machine von Chris Cheung, Sampson Wong und Jason Lam.[37] Über eine Website war es Unterstützern und Aktivisten auf der ganzen Welt möglich, Kurznachrichten an die Protestler in Hongkong zu senden. Diese Botschaften wurden dann über mehrere Wochen an die Wand über der Lennon Wall projiziert.
Im Gegensatz zu der oft handwerklichen und bildhaften Protestkunst liegt der Fokus dieses Projekts auf der Macht der Sprache. Gleichzeitig verdeutlicht die Add Oil Machine, in welcher Form physischer und digitaler (damit auch globaler) Protestraum zusammenwachsen können.[38]
Bemerkenswert ist auch, dass die Kreativität der Hongkonger Kunstszene nicht nachließ, als die Protestorte geräumt wurden. Vielmehr dauert die künstlerische Reflektion über Hongkongs politische Lage bis heute an. Das zeigen eine Reihe von Kunstevents und Ausstellungen[39] oder auch die 2016 erschienene Dokumentation »Yellowing« des jungen Filmemachers Chan Tze-Woon.[40] In diese Reihe gehört auch der Film »Ten Years« von 2015, der in fünf Episoden eine dystopische Zukunft Hongkongs im Jahr 2025 vorstellt. So entstand in Hongkong das, was Jacques Rancière als ein Milieu von Leuten bezeichnet, »die zwischen dem Künstler und dem politischen Aktivisten stehen« und versuchen, »die Sichtbarkeit der Aufteilung der Welt von heute anders zu entwerfen«.[41] Die Entstehung dieses Milieus führt auch dazu, dass die Praktiken von Kunst und Politik sich sehr viel schwerer unterscheiden lassen und oft fließend ineinander übergehen.
Am 74. Tag der Besetzung von Admiralty, am 11. Dezember 2014, rückte die Polizei mit einem Großaufgebot von rund 7000 Sicherheitskräften an, um das größte Protestlager der Regenschirmbewegung endgültig zu räumen. Der Einsatz war minutiös geplant, sehr professionell und effektiv. Die Polizei forderte bis etwa zwei Uhr nachmittags in regelmäßigen Abständen dazu auf, Admiralty zu verlassen, bevor sie dann den kompletten Protestraum absperrte und niemand für etwa eine Stunde den Ort verlassen oder betreten konnte. In dieser Zeit wurde eine Ausgangsschleuse aufgebaut, die ein kontrolliertes Verlassen von Admiralty ermöglichte; dabei nahm die Polizei von allen Personen die Personalien auf.[42] In dieser Phase –zwischen drei und fünf Uhr nachmittags – konzentrierte sich der (Sitz-) Protest der verbliebenen Vertreterinnen und Vertreter der Regenschirmbewegung auf einen überschaubaren Radius direkt vor dem Gebäude der chinesischen Volksbefreiungsarmee an der Harcourt Road. Von östlicher Seite her wurde das Protestlager unterdessen bereits geräumt.[43] Am späten Abend waren die ehemals besetzten Straßen wieder für den Verkehr geöffnet. Der für jeden sichtbare räumliche Gegenentwurf, der sich innerhalb von elf Wochen langsam auf der Straße herausgebildet hatte und am Ende eine Art alternative Mini-Gemeinschaft repräsentierte, war in knapp 13 Stunden wieder verschwunden.
Nicht verwunderlich ist, dass Peking die Räumung der Protestorte als »Niederlage der Regenschirmrevolution« darstellte.[44] In chinesischen Medien wurden die Proteste von Beginn an als illegale Handlungen radikaler Elemente beschrieben, die Hongkongs soziale Ordnung und Sicherheit gefährdeten. Das Ende der Proteste ist aus dieser Perspektive eine Chance für die Hongkonger Gesellschaft, zur Normalität zurückzukehren – was für Peking bedeutet, am Prinzip »Ein Land, zwei Systeme« festzuhalten.[45] Chinas Führung folgt hier der Devise »Aus den Augen, aus dem Sinn«, womit sie die politischen Wirkkräfte der Regenschirmbewegung eindeutig unterschätzt. Dies entspricht der Wahrnehmung, den Erfolg der Bewegung in erster Linie von der konkreten Durchsetzung ihrer Hauptziele abhängig zu machen. Wie die Aktivisten gefordert hatten, sollte der Nationale Volkskongress seine Entscheidung über die Wahlreform in Hongkong revidieren, der Regierungschef C.Y. Leung sollte zurücktreten und das Amt im Jahr 2017 über eine allgemeine Direktwahl besetzt werden. Nichts davon wurde erreicht. Doch koppelt man den Erfolg einer Protestbewegung an die Durchsetzung ihrer Ziele, so überschätzt man deutlich die transformative Macht, die Demonstrationen oder sogenannte Revolutionen innerhalb einer bestehenden politischen Ordnung haben können. Es geht vielmehr um das, was nach den Protesten folgt. Slavoj Žižek schreibt: »The true problem of revolution is not taking power; it’s what you do the day after. How you rearticulate everyday life.«[46] Mit Bezug auf Protestbewegungen bedeutet dies etwa die Fähigkeit, ein spezifisches politisches Anliegen erfolgreich im gesellschaftlichen Diskurs zu verankern oder Gruppierungen zu gründen, die sich nach den Protestaktionen als Opposition etablieren – nicht außerhalb, sondern innerhalb des Systems.
In diesem Sinne besteht einer der wichtigsten Effekte der Regenschirmbewegung darin, dass die Diskussion über Hongkongs politische Zukunft wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Proteste waren insofern kein kurzes Rauschen, das innerhalb weniger Wochen wieder vergessen wurde. Vielmehr haben die Aktivistinnen und Aktivisten allen gezeigt, dass sie ihr Recht geltend machen, gehört zu werden. Die oftmals sehr jungen Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung unterbrachen die regulären politischen Abläufe und brachten sich selbst als neue politische Subjekte für Hongkong ins Spiel, etwa als Alternative zu dem bestehenden pan-demokratischen Lager[47] im Legislativrat. Sie zeigen, dass es in der Hongkonger Gesellschaft noch weitere Stimmen gibt, die zu beachten sind, und sie forderten aktiv ihren Anteil an der Gestaltung der Zukunft ein.[48] In Anlehnung an Rancière kann die Regenschirmbewegung als Herausforderung des politischen Konsenses in Hongkong verstanden werden. Ein Teil der Gesellschaft, der vorher nicht gehört wurde, machte Dissens sichtbar – gegenüber dem Rest, der in der Regel das Sagen hat und durch die vorhandene politische Ordnung repräsentiert wird. Die Proteste bedeuteten insofern den Moment der bis dahin stärksten politischen Autonomie Hongkongs.
Die Proteste der Regenschirmbewegung liegen nun bereits einige Zeit zurück, doch die Frage nach Hongkongs Zukunft wird in dessen Gesellschaft und Politik noch immer diskutiert. Daran hat auch nichts geändert, dass mittlerweile Carrie Lam neue Regierungschefin geworden ist. Ihre Wahl erfolgte im März 2017 nach altem Verfahren – das heißt, wieder konnte nur ein sehr kleiner Ausschnitt der Hongkonger Gesellschaft, ein Wahlgremium von 1200 Personen, abstimmen. Diese Versammlung besteht größtenteils aus elitären, pekingfreundlichen und geschäftsorientierten Gruppen, von denen manche Mitglieder sogar direkt von der chinesischen Zentralregierung nominiert werden. Freie und allgemeine Wahlen für das höchste Regierungsamt in Hongkong sind vorerst also nicht absehbar, ebenso wenig wie eine Kandidatennominierung durch die Hongkonger Bevölkerung ohne Pekinger Kontrollmechanismus. Folglich kann die Zentralregierung auch künftig den Grad von Hongkongs Autonomie entscheidend mitbestimmen und das für sie maßgebliche Prinzip »Ein Land, zwei Systeme« als erfolgreich darstellen.
Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. So zeigten die letzten Wahlen zum Legislativrat – dem Hongkonger Mini-Parlament – im September 2016, dass die Regenschirmbewegung nicht einfach verschwunden ist.[49] Protestaktivisten haben neue Parteien gegründet, darunter »Demosisto« und »Youngspiration«. Insgesamt wurden sechs Kandidatinnen bzw. Kandidaten dieser neuen demokratischen Bewegung ins Parlament gewählt. Keiner von ihnen ist über 40 Jahre alt. Nathan Law Kwun-chug, ein Mitglied von »Demosisto«, ist Jahrgang 1993 und damit der jüngste Vertreter, der jemals in den Hongkonger Legislativrat einzog. Ebenfalls gewählt wurden Yau Wai-Ching und Sixtus »Baggio« Leung Chung-Han von »Youngspiration«, Cheng Chung-tai von der eher radikaleren Partei »Civic Passion«, Lau Siu-lai, die während der Regenschirmproteste öffentliche Vorträge hielt und eine eigene Partei namens »Democratic Groundwork« gründete sowie Eddie Chu Hoi-dick, ein bekannter Aktivist und Journalist, der als Unabhängiger kandidiert hatte. Damit deutet diese Wahl nicht nur einen Generationswechsel im demokratischen Lager an,[50] sondern zeigt ebenso, dass trotz aller strukturellen Einschränkungen politische Teilhabe auch für Vertreterinnen und Vertreter neugegründeter Parteien möglich ist. Für jede Protestbewegung bedeutet es einen schwierigen Schritt, den Kampf von der Straße ins Parlament zu verlagern. Daher sind die Wahlen zum Legislativrat 2016 und vor allem auch die gestiegene Wahlbeteiligung (58,3 Prozent)[51] durchaus als Erfolg zu werten.
Allerdings wurde dieses positive Ergebnis durch Aktionen der neugewählten Abgeordneten Yau Wai-Ching, Sixtus »Baggio« Leung, Lau Siu-lai, Nathan Law, Edward Yiu[52] und Leung Kwok-hung[53] wieder zunichtegemacht. Auf unterschiedliche Weise nutzten alle ihre Vereidigung im Parlament, um ein Zeichen des Protestes zu setzten. So hielten etwa Yau Wai-Ching und Sixtus »Baggio« Leung ein Plakat hoch, auf dem »Hongkong ist nicht China« stand – ein klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit. Leung Kwok-hung hatte einen gelben Regenschirm in der Hand, trug ein T-Shirt mit der chinesischen Aufschrift „ziviler Widerstand“ und zeigte außerdem ein Pappschild, auf dem das Deckblatt der Entscheidung des Nationalen Volkskongresses vom 31. August 2014 durchgestrichen war.[54] Andere sprachen den Eid bewusst sehr langsam oder fügten bestimmte Wörter und Aussagen hinzu.[55]
Diese Auftritte hatten für das demokratiefreundliche Lager in Hongkong eine ganze Reihe negativer Folgen, die bis heute nachwirken. Zunächst einmal provozierten sie eine deutliche Reaktion des Nationalen Volkskongresses in Peking. Anfang November 2016 beschloss dieser, Legislativrats-Abgeordnete müssten bei ihrer Vereidigung anerkennen, dass Hongkong ein Teil Chinas sei – wie es auch in Artikel 104 des Hongkonger Basic Law vorgesehen ist.[56] Außerdem bekräftigte der Nationale Volkskongress in seiner Interpretation, dass der Eid respektvoll, ernst und akkurat vorgelesen werden müsse. Sollte dies nicht der Fall sein, werde die Vereidigung nicht anerkannt und die betreffende Person von ihrem öffentlichen Amt disqualifiziert. Es bestehe auch keine Möglichkeit, die Vereidigung zu wiederholen.[57] In Anlehnung daran entschied Hongkongs Oberster Gerichtshof zunächst am 15. November 2016, Yau Wai-Ching und Sixtus »Baggio« Leung ihre Sitze abzuerkennen. Die anderen vier Abgeordneten verloren, nach längerer juristischer Prüfung, am 14. Juli 2017 ihre Mandate. Der Wegfall von insgesamt sechs Sitzen hatte auch Auswirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten des demokratischen Lagers im Legislativrat; es verlor vor allem die Vetomacht gegenüber Gesetzentwürfen, die von der Regierung eingebracht werden.
Darüber hinaus wurde sehr schnell klar, dass die chinesische Zentralregierung keinen Unterschied mehr macht, ob Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung für Hongkong gefordert wird. Neue demokratische Abgeordnete, neugegründete Parteien oder Repräsentanten der Regenschirmbewegung (die während der Proteste übrigens nie Hongkongs Unabhängigkeit forderte) werden von der Pekinger Führung sämtlich in einen Topf geworfen, was eine differenzierte Debatte über Hongkongs Zukunft weiter erschwert.
Der Ruf nach Unabhängigkeit ist somit keine Lösung. Denn letztlich dreht sich die Debatte dann nur noch um die Politik der chinesischen Zentralregierung gegenüber Hongkong, nicht mehr um dessen politische Situation. Zudem impliziert die Forderung nach Unabhängigkeit immer eine Antwort auf die Frage, von wem man unabhängig sein will. Das Streben nach Unabhängigkeit rückt Hongkong in den Augen Pekings damit unausweichlich auf eine Ebene mit Tibet, Xinjiang und Taiwan. Als Folge droht auf Seiten Chinas eine deutliche Verschärfung des Tons und auch der politischen Praxis. Das ultranationalistische Video, das eingangs erwähnt wurde, deutet dies exemplarisch an. Bei einem radikal geführten Unabhängigkeitsdiskurs geht es im Grunde nicht mehr um die Zukunft von Hongkongs Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, sondern nur noch darum, kein Teil Chinas zu sein.[58] Allerdings kann die zunehmende Einflussnahme Pekings auf Hongkong nach den Regenschirmprotesten auch nicht ignoriert werden.[59]
Aus dieser Lage erwächst bei vielen Resignation. Der bereits erwähnte Film »Ten Years« bringt dies künstlerisch gut zum Ausdruck.[60] Er entwirft verschiedene Szenarien für ein Hongkong im Jahr 2025. In einer Episode hört ein Eierverkäufer von Jungpionieren, zu denen auch sein Sohn gehört, dass der Begriff »lokal« zensiert worden sei und er seine Eier nicht mehr so ausweisen dürfe – obwohl er sie von einer Hühnerfarm in Hongkong bezieht. Am Ende der Geschichte befinden sich Vater und Sohn in einer Wohnung, in der Buchhändler zensierte Bücher aufbewahren. Der Vater erfährt nun, dass sein Sohn bei Kontrollgängen mit den Jungpionieren neu zensierte Wörter heimlich einem Buchhändler mitgeteilt hat, damit dieser die betreffenden Werke in Sicherheit bringen konnte. Der Vater ist erstaunt, und er bekennt: »Wenn wir damals etwas getan hätten, dann müsstet ihr heute nicht so leben.«
Der Film »Ten Years« liefert düstere Zukunftsvisionen. Es geht dabei um den wachsenden Einfluss der VR China auf Hongkong, den Verlust der eigenen Identität und die Verzweiflung der Menschen über die politische Situation. Dabei endet der Film mit einer Aufforderung an die heutige Hongkonger Gesellschaft. Vor weißem Hintergrund steht zunächst der Schriftzug »Es ist schon zu spät«, bis er langsam verblasst und der Satz »Es ist noch nicht zu spät« erscheint. Damit ist der Geist der Regenschirmbewegung treffend erfasst.
Forschungsgruppe Asien
Projektkoordinatorin, Herausgeberin