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Dakar

Senegal

Jugend in Bewegung: Choreographie eines urbanen Protests

Nicht nur in den nördlichen, auch in den west­lichen Staaten Afrikas finden in den letzten Jahren vermehrt Proteste statt. Von 2009 bis 2012 stieg die Anzahl der Aktionen von Protestbewegungen in Nord- und Westafrika rasant von unter 250 auf knapp 1500 pro Jahr.[1] Seitdem ist von einem „Afrikanischen Erwachen“[2] die Rede. Gesellschaften in afrikanischen Ländern greifen hierbei auf langjährige Erfahrungen mit Protest zurück.[3] Doch erst seit einigen Jahren werden Protestbewegungen in Medien und Politik vermehrt als relevante Akteure wahrgenommen. Neben den Umbrüchen in Tunesien und Ägypten liegt es an zwei Faktoren, dass Protestereignisse global sichtbarer werden. Zum einen steigt die Präsenz von Massenprotesten im öffentlich-urbanen Raum, der strategisch genutzt wird. Zum anderen erleichtert der digitale Raum die nationale und transnationale Kommunikation. Soziale Medien und Netzwerke ermöglichen es, Bilder von Protesten sowie Forderungen von Aktivisten nahezu in Echtzeit global zu verbreiten.[4]

>> Video: Lokaler Protest findet internationale Beachtung

Ein wichtiger Anlass für Demonstrationen in Westafrika ist das Bestreben einiger Staatspräsidenten, ihre Amtszeit um ein weiteres Mandat zu verlängern, obwohl die Verfassungen der betreffenden Staaten in der Regel höchstens zwei Amtsperioden von je fünf oder sieben Jahren vorsehen.[5] Jugendvereine, studentische Initiativen, mitunter auch Gewerkschaften sowie Oppositionspolitikerinnen und -politiker lehnen sich öffentlich mit medienwirksamen Widerstandsaktionen gegen solche Vorstöße der Präsidenten auf.[6] Wie wirkungsvoll diese Form von Protesten ist und welche Möglichkeiten sie umfasst, eigene Interessen zu artikulieren, wurde vor allem bei den Protestbewegungen im Senegal während der Jahre 2011 und 2012 deutlich. Die Sprecher des Bündnisses Y’en a marre („Wir haben die Nase voll“) stammten aus der lokalen Hiphop-Szene oder der Medienbranche. Deshalb gelang es ihnen auch in kürzester Zeit, breite mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen.[7] Europäische Journalisten und Journalistinnen berichteten vermehrt über afrikanische Jugend- und Hiphop-Bewegungen und die Rolle sozialer Medien – Ressourcen, welche die Protestbewegung zu nutzen verstand.

Im Senegal hat die Hiphop-Szene eine lange Tradition als kritische Gegenmacht zur Politik staatlicher Eliten.[8] Bereits im Jahr 2000 existierten über 3000 Hip-Hop-Kollektive, ein Großteil davon in der dynamischen urbanen Szene der Hauptstadt Dakar. Hier profitierte die Bewegung maßgeblich vom zuvor schon bestehenden Bekanntheitsgrad ihrer Sprecher und von deren Netzwerken.[9]

Das Beispiel der senegalesischen Bewegung mit ihren vielfältigen Protest- und Kommunikationsformen zeigt eindrücklich, wie Akteure sich verändernde Protesträume reflektieren, strategisch nutzen und sich aneignen. Je nachdem, wie die medialen, staatlichen und internationalen Reaktionen auf Proteste ausfallen, eröffnen, weiten oder verengen sich Gelegenheiten, Widerstand gegen staatliche Politik zu leisten. 2011 entfaltete sich Pro­test im Senegal vor allem auf öffentlichen Plätzen im Stadtzentrum Dakars. Massenkundgebungen machten die Bewegung und ihre Stärke rasant sichtbar. Als Reaktion darauf inszenierte die Regierung dort polizeiliche und militärische Macht. Demonstrationsverbote werteten die Protestaktionen symbolisch auf, zwangen die Protestierenden aber auch, ihr Repertoire den veränderten Situationen anzupassen.

Diese physischen Konfrontationen sind als direkte Aushandlungen zwischen Protestierenden und Regierung zu verstehen. Im Verlauf der Proteste tendierten staatliche Sicherheitskräfte dazu, immer rigoroser durchzugreifen. Oft erschloss sich die Bewegung daraufhin neue Räume zur Meinungsartikulation, indem sie auf musikalische Ausdrucksformen wie pädagogische Konzerte oder die Verbreitung von Protestsongs zurückgriff. Dabei nutzte sie nicht nur diese audiovisuellen Räume, sondern zugleich soziale Medien wie Twitter und Facebook, um ihre Anhängerschaft, vornehmlich die senegalesische Jugend, zu mobilisieren und Medienvertreter zu informieren. Zwar scheiterte die Bewegung mit ihrem Versuch, die Kandidatur des senegalesischen Präsidenten Abdoulaye Wade für eine dritte Amtszeit zu verhindern. Dennoch erkämpfte sie sich politische Räume und wurde zum Sprachrohr der Jugend im In- und Ausland. Deren Stimme war in politischen Debatten bisher meist nicht zu vernehmen, da aus Gründen der Tradition nur älteren Personen zugestanden wird, sich öffentlich politisch zu äußern.

Mit Unterstützung aus der Diaspora in Europa und den USA mobilisieren Vertreter von Y’en a marre weitere soziale Bewegungen in Afrika wie Lutte pour le Changement (LUCHA) in der Demokratischen Republik Kongo und Balai Citoyen in Burkina Faso.[10] Die drei Bewegungen verstehen sich jeweils als Stimme der ungehörten Jugend ihres Landes und stehen über Internet und Smartphones in engem Kontakt zueinander. Neben Solidaritätsbekundungen organisieren die Bewegungen gemeinsam Konferenzen zum Erfahrungsaustausch, wie am 13. März 2015 in Kinshasa. Diese Zusammenkunft wurde allerdings gewaltsam aufgelöst.[11]

Hintergrund und Motive von Y’en a marre

Am 18. Januar 2011 gründeten der Journalist Fadel Barro und die Rapper Thiat, Kilifeu, Simon und Fou Malade in Dakar die Bewegung Y’en a marre.[12] Auslöser waren die zahllosen Stromausfälle in den Vororten der rapide wachsenden Hauptstadt. Standen im wohlhabenden Stadtzentrum Generatoren zur Verfügung, mit denen sich Lücken in der Stromversorgung überbrücken ließen, hatten die Bewohnerinnen und Bewohner der Außenbezirke dagegen oft nur wenige Stunden Strom pro Tag. Große Teile der Bevölkerung bekamen diese Auswirkungen einer Klientelpolitik und schlechter Regierungsführung am eigenen Leibe zu spüren. Rasch gelang es den rhetorisch starken Sprechern der Bewegung, für diesen Missstand die Regierung allgemein und Präsident Abdoulaye Wade persönlich verantwortlich zu machen. Neben der ungerechten Verteilung der Ressourceneinkommen prangerten die Protagonisten der Bewegung das korrupte Patronagesystem, den fehlenden Zugang zu Bildung und die schlechte Repräsentation der Jugend innerhalb der Politik an.[13] In vielen Staaten Afrikas ist der Graben zwischen junger Bevölkerung und alten, lange amtierenden Präsidenten tief.[14]

Die Bewegung wollte in erster Linie die senegalesische Jugend mobilisieren. Viele junge Senegalesinnen und Senegalesen hatten einst dazu beigetragen, dass Abdoulaye Wade 2000 Staatspräsident wurde. Noch 2005 galt Senegal bei der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit als Vorbild für internationale Organisationen. Doch trotz zahlreicher Versprechungen schuf die Regierung unter Wade keine langfristigen Perspektiven für die neue Generation.[15] Von der positiven Wirtschaftsentwicklung profitierte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, vor allem die wirtschaftliche und politische (städtische) Elite. Besonders die unter 35-Jährigen hatten und haben auch heute noch schlechte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt.[16] Die Proteste intensivierten sich, als Präsident Wade einen Vorstoß unternahm, das Wahlgesetz so zu reformieren, dass er nur noch 25 Prozent der Stimmen für seine Wiederwahl benötigt hätte. Darüber hinaus wollte er den Posten eines Vizepräsidenten für seinen Sohn Karim Wade schaffen.[17] Neben Y’en a marre formierte sich unter dem Namen Mouvement des forces vives du 23 Juin 2011 (M23) (Bewegung des 23. Juni 2011) ein Bündnis aus diversen Bewegungen, NGOs wie der Menschenrechtsorganisation Rencontre Africaine pour la Défense des Droits de l’Homme (RADDHO) und Opposi­tionsparteien.[18] Mit diesem Zusammenschluss rief Y’en a marre zeitweise gemeinsam zu Protesten auf.[19]

Nachdem der Verfassungsrat Wades dritte Präsidentschaftskandidatur genehmigt hatte, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei. Infolge der juristischen Legitimation und der staatlichen Repression nahmen die Proteste ab und das Protestbündnis M23 verlor an Zugkraft.

Die Proteste richteten sich gegen den Versuch des Präsidenten, seine Macht durch institutionelle Reformen auszuweiten.[20] Wade hatte bereits zwei Amtszeiten absolviert, eine dritte sieht die senegalesische Verfassung nicht vor. Dennoch bestätigte der Verfassungsrat am 27. Januar 2012, die erneute Kandidatur sei verfassungskonform. Vergleicht man aber die Entscheidungen von Verfassungsgerichten in Afrika südlich der Sahara, so zeigt sich, dass diese meist im Sinne der regierenden Partei urteilen und nicht als Gegenmacht zur Exekutive fungieren.[21] Zudem ist umstritten, inwiefern die Entscheidungen des Verfassungsrates im Senegal rechtlich bindend sind.[22]

Zwar gelang es der Zivilgesellschaft nicht, die dritte Kandidatur Wades zu verhindern, doch mobilisierte sie erfolgreich für seine Abwahl. Am 25. März 2012 wurde Macky Sall im zweiten Wahlgang mit über 60 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Senegals gewählt. Dieser Erfolg wird unter anderem auch der symbolischen Rückendeckung durch Y’en a marre zugeschrieben, deren Vertreter den Kandidaten Sall vor der Stichwahl unter großem medialem Interesse in ihrem Hauptquartier empfingen. Bis heute betonen die Sprecher der Bewegung allerdings, sie hätten unmissverständlich zur Abwahl Wades aufgerufen, was aber nicht als direkte Unterstützung für Sall zu werten sei.

>> Chronologie des Protests

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Dakar als umkämpfter ProtestraumDakar als umkämpfter Protestraum

Um ihren Anliegen Aufmerksamkeit verschaffen zu können, ist die Sichtbarkeit für Protestbewegungen entscheidend. Aufgrund geographischer, technischer und soziostruktureller Gründe konzentrieren sich Proteste oft auf Hauptstädte. Die mächtigste Protestkonstellation bilden klassenübergreifende urbane Bewegungen, die entschlossen sind, der politischen Elite Widerstand zu leisten. Diese Bewegungen machen es den Regierungen besonders schwer, sie zu kooptieren oder zu unterdrücken.[23] Große Städte bieten den Protestierenden viele Möglichkeiten, sich weiträumig zu verteilen, um den staatlichen Sicherheitskräften zu entkommen. Im Gegensatz zu ländlichen Gebieten weisen urbane Räume zudem die notwendige Infrastruktur auf, um erfolgreich für kollektives Handeln zu werben. Dort sind zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen ansässig, die meist in Dachverbänden organisiert sind und Erfahrung in der Zusammenarbeit haben.[24] Zudem ziehen junge Menschen oft mit großen Erwartungen in die Städte. Sie erhoffen sich Arbeitsplätze, bessere Lebensbedingungen und gesellschaftliche Teilhabe, wie das Beispiel des Senegal illustriert.[25] Vor allem die häufiger werdenden Dürren und die deshalb schwindenden Aussichten auf Einkommen oder gar das bloße Überleben sind ein gewichtiger Grund dafür, dass viele Landbewohnerinnen und -bewohner in die urbanen Zentren des Senegal strömen. Infolgedessen sind die ohnehin seit 2007 spürbar gestiegenen Nahrungsmittelpreise weiter in die Höhe geschnellt. Da es auch in den Städten an Perspektiven fehlt und die Erwartungen vieler Zugezogener enttäuscht wurden, ist ein hohes Frustrations- und damit Mobilisierungspotential entstanden. Das gilt besonders für die junge Generation, die einen großen Teil der Bevölkerung stellt.

Weil die senegalesische Jugendbewegung im öffentlichen Raum der Hauptstadt immer mehr an Präsenz gewann, wurde sie auch für die politische Elite sichtbar. Vertreter der Bewegung können dort Regierungspolitikerinnen und -politiker, Institutionen und Medien direkt ansprechen.[26] Schon wenige Wochen nach Gründung von Y’en a marre im Januar 2011 schlugen ihre Protagonisten in Dakar das Haupt­quartier der Bewegung auf, von dem aus sie Kontakt zu anderen lokalen Ortsgruppen, den sogenannten Esprits (Geisteshaltung, Mentalität), hielten und gemeinsame Aktivitäten koordinierten. Mit Hilfe dieses lokal rückgebundenen Netzwerks, das zwischenzeitlich aus bis zu 350 Gruppen bestand, breitete sich die Bewegung rapide aus und schuf eine effiziente Kommunikationsstruktur.[27] Damit konnte sie lokale Nachbarschaftsprojekte ohne langwierige Entscheidungsprozesse voranbringen, neue Mitglieder informieren und Ziele ihrer Politik verbreiten.

Strategische Entscheidungen über Mobilisierungsformen und Protesttaktiken hängen davon ab, wie stark sich der lokale öffentliche Raum in Dakar ausweitet oder verengt. Sie können aber auch durch internationale Aufmerksamkeit beeinflusst wer­den, wie sich an der Entwicklung des Protests der Jahre 2011 und 2012 innerhalb Dakars ablesen lässt: Die erste Phase von März bis Juni 2011 war durch kürzere Aktionen gekennzeichnet. Dazu gehörten friedliche Sit-ins, Konzerte, Informationsveranstaltungen und kreative Widerstandsformen wie die sogenannte „Messe der Missstände“, mit der die schlechten Lebensbedingungen während der Regie­rungszeit Wades angeprangert wurden. Nach ihren Aktionen riefen die Protestierenden, wie schon die Bewegung Set/Setal in den späten 1980er Jahren, zu gemeinschaftlichen Aufräumarbeiten auf. Zum einen wollten sie sich auf diese Weise den öffentlichen Raum aneignen, zum anderen Verantwortung für diesen als Bürgerinnen und Bürger übernehmen. Mit solchen kreativen Protestformen gelang es der Bewegung, die komplexen Zusammenhänge ihrer gesamtgesellschaftlichen Kritik plastisch zu vermitteln und über die eigene Anhängerschaft hinaus Passantinnen und Passanten zu informieren. Urbane Räume weisen nicht nur gute infrastrukturelle Bedingungen für Protest auf. Es lassen sich dort auch mit geringem Aufwand viele Menschen erreichen, leben doch rund 43 Prozent der Gesamtbevölkerung des Senegal in Städten. Was die Aktionen in Dakar betrifft, konzentrierte sich die Bewegung auf den Platz des Obelisken und den Platz der Unabhängigkeit im Zentrum der Hauptstadt.

>> Zentrale Protestorte in Dakar

Welch große strategische und symbolische Bedeutung diese Plätze besitzen, wurde nur kurze Zeit später deutlich, als die Behörden im Juli 2011 Demonstrationen dort untersagten. Offiziell sollten damit die Bewohnerinnen und Bewohner der Umgebung sowie die dort ansässigen, meist ausländischen Unternehmen geschützt werden. In Dakars Innenstadt sind vor allem internationale Organisationen, multinationale Konzerne, transnational arbeitende Nichtregie­rungsorganisationen und Medien angesiedelt. Für die Bevölkerung dagegen gibt es kaum mehr bezahlbaren Wohn­raum im Stadtzentrum. Als Reaktion auf das Demonstrationsverbot in Dakar verlagerten die Sprecher der Bewegung die Proteste in andere Städte wie St. Louis und Kaolack.

Je näher aber die für Ende Februar 2012 angesetzte Präsidentschaftswahl rückte, desto mehr nahmen die öffentlichen Kundgebungen wieder zu und erreichten ihren Höhepunkt kurz vor den Wahlen, als es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. Dabei setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein. Die Protestierenden antworteten, indem sie Straßenzüge mit brennenden Autoreifen blockierten. Auf diese Weise wurden wirkmächtige Bilder produziert, die verdeutlichen, dass Protestbewegungen in kontinuierlicher Interaktion mit staatlichen Sicherheitskräften und medialen Diskursen stehen. Ausschlaggebend für die Taktiken der Bewegungen sind nicht so sehr Strukturen oder Gelegenheiten, sondern in erster Linie die Einschätzung, wie die Regierungen auf Aktionen reagieren könnten. Auch die Unterstützung innerhalb der Bevölkerung spielt eine zentrale Rolle, etwa bei der Entscheidung, ob eine Bewegung gewaltsame Protestmittel anwenden soll. Diese tragen nämlich meist dazu bei, die Aktionen der Protestierenden zu delegitimieren, vor allem wenn regierungsnahe Medien diese als gewaltbereiten Pöbel stigmatisieren.[28] Darin liegt auch ein Grund dafür, dass die Sprecher von Y’en a marre vermehrt auf die friedlichen Protestformen verweisen und sich während der Protestwellen öffentlich von gewaltsamen Aktionen distanzierten.

Die Ereignisse im nördlichen Afrika im Zuge des Arabischen Frühlings hatten im Laufe des Jahres 2011 hohe internationale Aufmerksamkeit für Protestbewegungen erzeugt. Daraus erklären sich die häufigen Vergleiche der Proteste im Senegal mit jenen in Nordafrika sowie die Ausrufung eines „senegalesischen Frühlings“.[29] Für regelmäßige Berichterstattung sorgten zudem die für Februar 2012 angesetzten Präsidentschaftswahlen im Senegal. Seit jeher bilden bevorstehende Wahlen Kristallisationspunkte, in denen sich Proteste intensivieren und bisweilen in Gewalt umschlagen.[30] Amnesty International und die Deutsche Welle berichteten über Verletzte und Tote im Zuge der Niederschlagung von Protesten.[31] Kurz vor den Wahlen äußerten sich auch die Afrikanische Union und Frankreich besorgt über die gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Die internationale Sichtbarkeit von Protesten hängt nicht nur von der Reaktion des politischen Regimes, sondern auch vom Zeitraum ab, in dem sich Proteste jeweils abspielen. Kritische Phasen entstehen durch die Intensität und Dauer der Proteste selbst, aber auch durch äußere Faktoren wie Wahltermine. In diesen Zeiträumen können internationale Akteure eine wichtige Watchdog-Funktion übernehmen. Lokal verengte Protesträume werden so geweitet und schaffen neue Gelegenheiten, die wiederum die Entscheidungen der Anführer von Protesten beeinflussen.[32]

Ausweg digitaler und audiovisueller Protestraum

In diesem Spannungsfeld von Protestierenden und Adressaten werden die Entscheidungen über Taktiken des Protests getroffen. Je nachdem, wie offen das politische Regime ist oder wie fähig und bereit zur Repression, wird Widerspruch geäußert und Widerstand geleistet.[33] Um das Problem der stark eingeschränkten Meinungsfreiheit im Zentrum Dakars zu umgehen, veröffentlichte die Bewegung den Song Faux Pas Forcé (etwas nicht forcieren oder nicht zu weit treiben), der sich direkt an den damaligen Präsidenten Wade richtete und in dem sie dessen angekündigte Verfassungsänderung verurteilte.

>> Video: Protestsong "Faux! Pas Forcé!"

Wie in anderen Protestsongs von Y’en a marre auch war der Großteil dieses Stücks in der Umgangssprache Wolof gehalten. Nur die Kernaussage war auf Französisch formuliert, damit die in dem Song erhobenen Forderungen nicht nur im Senegal, sondern auch von internationalen Medien verstanden werden konnten. Anders als offene Demonstrationen nämlich waren künstlerische Ausdrucksformen zu der Zeit weiterhin möglich. Ein weiteres Mal nutzte die Bewegung ihre Taktik der „Urban Guerrilla Poetry“[34] im Vorfeld der Wahlen. In den Songs Daas Fanaanal (eine Waffe schärfen) und Dooggali (einen Kampf zu Ende bringen) rief sie dazu auf, Wade abzuwählen.

Weil aber unter Wades zweiter Amtszeit die Zensur gegenüber regierungskritischen Zeitungen und Radiosendern verschärft wurde, griffen die Musiker nun auf ihr eigenes Netzwerk zurück, um ihre Protestlieder zu verbreiten. Zudem nutzten sie den öffentlichen Raum, indem sie Konzerte veranstalteten, Flyer verteilten und Straßen mit Bussen beschallten, die mit Lautsprechern und Mikrofonen ausgestattet waren. Der Sprechgesang wurde so zum Werkzeug, um Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren, ein bürgerschaftliches Bewusstsein zu wecken und zu Aktionen wie Wahlregistrierung oder Demos aufzurufen.[35] Wegen ihrer unverblümten Ausdrucks­weise waren die Protestsongs nicht nur für die urbane Jugend, sondern auch für die Land­bevölkerung und ältere Generationen zu verstehen.[36]

Zugleich verband die Bewegung ihre audiovisuellen Protesträume direkt und wechselseitig mit Informationskanälen, die eine Alternative zu den begrenzten gesellschaftlichen oder öffentlichen Räumen boten. Mit öffentlichkeitswirksamen gewaltfreien Protestaktionen – von Sit-ins über Straßenblockaden bis hin zu pädagogischen Kon­zerten, die über Onlinekanäle und traditionelle Medien verbreitet wurden – erreichten die Protestierenden, dass ihre Bewegung transnational sichtbar wurde. Bis heute genießt die senegalesische Bewegung lokal und überregional verhältnismäßig große Aufmerksamkeit in Medien, Politik, Wissenschaft und anderen Protestbewegungen. Mit ihren Unterstützerinnen und Unterstützern kommuniziert sie sowohl über herkömmliche Medien als auch über Kanäle wie Facebook und Twitter. Für letzteres ist eine Social-Media-Mana­gerin zuständig. Darüber hinaus haben die lokalen Gruppen eigene Facebook-Gruppen gegründet, um über ihre Aktivitäten zu informieren. Für die Koordination, Informationsverbreitung und Mobilisierung im Senegal selbst wiederum war die Nutzung von Mobiltelefonen wichtiger als soziale Medien. Nach Angaben der Weltbank besitzen etwa 88 Prozent der senegalesischen Bevölkerung ein Mobiltelefon.

Die Digitalisierung und die daraus entstandenen Räume im Internet wirken sich auch auf die Protestkultur aus. Anders als nach dem Arabischen Frühling postuliert, ist der digitale Raum aber nicht eigenmächtig wirksam. Ein Beispiel dafür war ein öffentlicher Beschwerdebrief mit dem Titel Mille plaintes contre le gouvernement (Tausend Beschwerden an die Regierung), den Protestler verfasst hatten. Er war über die Webseite der Bewegung öffentlich einsehbar und konnte dort unterschrieben werden. Beachtung in Medien und Politik fand er jedoch erst, als er symbolisch auf dem Platz des Obelisken im Zentrum Dakars niedergelegt wurde. Öffentliche Räume lassen sich aufgrund ihrer Begrenztheit besetzen und aneignen. In digitalen oder audiovisuellen Räumen herrscht dagegen ein fortwährender Kampf um Aufmerksamkeit.[37] Die Knappheit territorialer Räume kann durch erhöhte digitale Aufmerksamkeit ausgeglichen werden. Diese kann aber nicht die öffentliche Sichtbarkeit in Hauptstädten ersetzen.

Das Beispiel Y’en a marre veranschaulicht, wie lokale Protestbewegungen strategische Entscheidungen im Spannungsfeld von lokalen rechtlichen Bestimmungen, staatlichen Repressionen und digitalem Protestraum treffen. Dauerhafte Medienpräsenz hat die Bewegung mit Hilfe einer Kombination mehrerer Faktoren erzielt. Dazu gehörten Protesttaktiken im urbanen Raum und künstlerische Ausdrucksformen als Alternative zu verbotenen Demonstrationen ebenso wie die Tatsache, dass die Sprecher der Bewegung besondere Popularität genossen. Entscheidender für internationale Reaktionen sind dagegen kritische Zeiträume und die staatliche Politik gegenüber den Protestierenden, vor allem der Grad der Gewalt, mit dem sie Proteste niederschlagen lässt.

Nina-Kathrin Wienkoop

Promotionsstipendiatin Leuphana Uni Lüneburg
(bis 03/2016 an der SWP)
Autorin

  1. 1 Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), Database, All Africa, 5th Version (1997–2014), <http://www.acleddata.com/data/africa/> (eingesehen am 16.6.2016)
  2. 2 Firoze Manji/Sokari Ekine (Hg.), African Awakening. The Emerging Revolutions, Kapstadt u.a.: Pambazuka Press, 2012.
  3. 3 Peter Dwyer/Leo Zeilig, African Struggles Today. Social Movements since Independence, Chicago: Haymarket Books, 2012.
  4. 4 Vgl. auch Mareike Transfeld/Isabelle Werenfels (Hg.), #HashtagSolidarities: Twitter Debates and Networks in the MENA Region, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2016 (SWP Research Paper 5/2016).
  5. 5 Database of the Constitutions of Sub-Saharan Africa (DCSSA), Universität Konstanz, <https://cms.uni-konstanz.de/en/traditional-instiutions-in-sub-saharan-africa/database/> (eingesehen am 15.6.2016); vgl. Claudia Simons/Denis M. Tull, Grenzen der Macht? Amtszeitbeschränkungen in Afrika, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2015 (SWP-Studie 4/2015).
  6. 6 In sogenannten Jugendvereinen sind meist vor allem junge Erwachsene aktiv. Der Begriff „Jugend“ bezieht sich primär auf den sozioökonomischen Status, nicht auf das biologische Alter der Mitglieder.
  7. 7 Louisa Prause, Y’en a marre: Wer sind sie, wie mobilisieren sie und was fordern sie?, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Februar 2012 (Standpunkte International 2/2012).
  8. 8 Amy Niang, „Dialectics of Subversion: Protest Art and Political Dissidence in West Africa“, in: Paul Ugor/Lord Mawuko-Yevugah (Hg.), African Youth Cultures in a Globalized World, Farnham: Ashgate, 2015, S. 149–164.
  9. 9 Louisa Prause, „Y’en a marre: HipHop in Bewegung“, in: Wissenschaft & Frieden, 32 (2014) 3, S. 13–15.
  10. 10 Vgl. unter anderem den Dokumentarfilm „The Revolution Won’t Be Televised“ von Rama Thiaw über die Anführer von Y’en a marre, in dem ihre aktive Unterstützung für die burkinische Bewegung Balai citoyen (Besen der Bürger) deutlich wird. Siehe zu den Hintergründen auch Nina-Kathrin Wienkoop, Burkina Faso vor den Wahlen. Zwischen institutionellem Stillstand und demokratischem Aufbruch, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, November 2015 (SWP-Aktuell 93/2015).
  11. 11 Vgl. „A Social Movement To Be Reckoned with in Africa“, in: Human Rights Now (Blog der US-Sektion von Amnesty International), 22.4.2015, <http://blog.amnestyusa.org/africa/a-social-movement-to-be-reckoned-with-in-africa/> (eingesehen am 15.6.2016).
  12. 12 Louisa Prause, „Mit Rap zur Revolte: Die Bewegung Y’en a marre“, in: Prokla, 43 (2013) 1, S. 23–41.
  13. 13 Vgl. Ndongo Samba Sylla (Hg.), Les Mouvements sociaux en Afrique de l’Ouest, Paris: L’Har­mattan, 2014.
  14. 14 Vgl. unter anderem David E. Kiwuwa, „Africa Is Young. Why Are Its Leaders So Old?“, in: CNN Africa View, 29.10.2015, <http://edition.cnn.com/2015/10/15/africa/africas-old-mens-club-op-ed-david-e-kiwuwa/index.html> (eingesehen am 16.6.2016).
  15. 15 United Nations Office for West Africa (UNOWA), Youth Unemployment and Regional Insecurity in West Africa, Dakar, Dezember 2005, <http://allafrica.com/download/resource/main/main/idatcs/00010742:8de28423f6ac2b75b046035fbd5f643f.pdf> (eingesehen am 16.6.2016).
  16. 16 Es gibt keine Erhebung der Arbeitslosenzahlen bei den unter 35-Jährigen. Allerdings sind laut Angaben der Weltbank rund 13 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung zwischen 15 und 27 Jahren arbeitslos. In einem Bericht der Vereinten Nationen von 2004 wird die Quote der Arbeitssuchenden bei den 15- bis 35-Jährigen auf über 50 Prozent geschätzt. Vgl. World Bank, Development Indicators, „Youth Unemployment“, 2004, <http://data.worldbank.org/data-catalog/world-development-indicators> (eingesehen am 14.6.2016); Makha D. Sarr, Poverty Reduction Strategy and Youth Employment in Senegal, Juni 2004, <http://www.un.org/esa/socdev/social/papers/urban_sarr_prsp.pdf> (eingesehen am 16.6.2016); United Nations Economic Commission for Africa, Sub-regional Office in West Africa, Strategies to Promote Youth Self-employment in West Africa, 2011, <http://repository.uneca.org/bitstream/handle/123456789/16552/bib.%2020457.pdf?sequence=1> (eingesehen am 16.6.2016).</http:>
  17. 17 Vgl. Alcinda Honwanda, „Enough Is Enough! Youth Protests and Political Change in Africa“, in: Kadya Tall et al. (Hg.), Collective Mobilisations in Africa. Enough is Enough!, Leiden: Brill, 2015, S. 45–65.
  18. 18 Vgl. Aissatou Cissé, „M23: In the Name of the Senegalese People“, in: openDemocracy, 21.2.2012, <http://www.opendemocracy.net/5050/aissatou-ciss%c3%a9/m23-in-name-of-senegalese-people> (eingesehen am 15.6.2016).
  19. 19 Vgl. Nina-Kathrin Wienkoop, „It takes more to tango – cross-movement alliances of youth-led movements in West Africa “, in: openDemocracy, 14.8.2017, <https://www.opendemocracy.net/nina-kathrin-wienkoop/it-takes-more-to-tango-cross-movement-alliances-of-youth-led-movements-in-west> (eingesehen am 24.8.2017).
  20. 20 Andrea Kolb/Ute Bocandé, Senegal nach zwei Jahren Regierung Macky Sall. Stabilität, bessere Regierungsführung, aber wenige sichtbare Erfolge, Sankt Augustin/Berlin, 19.5.2014 (KAS Auslandsinformationen 5/2014).
  21. 21 Vgl. Charlotte Heyl/Alexander Stroh, Verfassungsgerichte in Westafrika: Unabhängige Krisenmanager?, Hamburg: German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Januar 2014 (GIGA Focus 1/2014).
  22. 22 Vgl. Annette Lohmann, Gegen den Trend – aber nicht sofort. Das Referendum im Senegal und die Amtszeitbegrenzung des Präsidenten, Berlin, April 2016 (Perspektive FES Senegal).
  23. 23 Vgl. Donatella della Porta, Mobilizing for Democracy. Comparing 1989 and 2011, Oxford: Oxford University Press, 2014.
  24. 24 Leila Demarest, Staging a „Revolution“: The 2011–2012 Electoral Protests in Senegal, Leuven: Centre for Research on Peace and Development, 2015 (CRPD Working Paper Nr. 20), S. 10.
  25. 25 Hamadou Tidiane Sy, „Senegal: Youth vs the Old Guard“, in: Layla Al-Zubaidi/Jochen Luckscheiter (Hg.), Movers and Shakers? Youth and Political Change in Africa, Kapstadt u.a.: Heinrich-Böll-Stiftung, 2013, S. 12–14.
  26. 26 Ruth Berins Collier/James Mahoney, „Adding Collective Actors to Collective Outcomes; Labor and Recent Democratization in South America and Southern Europe“, in: Comparative Politics, 29 (1997) 3, S. 285–303.
  27. 27 Louisa Prause, Die Bewegung Y’en a marre. Mit Rap zur Revolte, Diplomarbeit, Berlin: Freie Universität Berlin, 2012, S. 14.
  28. 28 Vgl. della Porta, Mobilizing for Democracy [wie Fn. 20].
  29. 29 Dominic Johnson, „Explosion der Wut“, in: taz, 29.1.2012.
  30. 30 Vgl. Lars Brozus, Der Preis der Wahl. Wahlbezogene Gewalt in fragilen Staaten als Herausforderung internationaler Demokratisierungspolitik, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2011 (SWP-Studie 33/2011).
  31. 31 Amnesty International, Senegal. An Agenda for Human Rights. An Opportunity Not to Be Missed by the Authorities Elected in the March 2012 Presidential Election, London, Juni 2012, <http://www.amnesty.org/en/documents/afr49/004/2012/en/> (eingesehen am 14.6.2016); Stefanie Duckstein, „Protestler bedrängen Afrikas Herrscher“, in: Deutsche Welle Online, 24.5.2012, <http://www.dw.com/de/protestler-bedr%C3%A4ngen-afrikas-herrscher/a-15971850> (eingesehen am 14.6.2016).
  32. 32 Vgl. als Studie zu anderen Ländern Donatella della Porta et al., „The Effects of Transnational Protest: Some Reflections on 12 Protest Campaigns and More“, Paper Prepared for Presentation at the Conference on Social Movement Outcomes, Genf, 16.–17.2.2010.
  33. 33 Nikolai Brandes/Bettina Engels, „Mehr als Zivilgesellschaft: Soziale Bewegungen in Afrika südlich der Sahara“, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen-PLUS, Supplement zu Heft 3/2014.
  34. 34 In ihren mehrheitlich auf Wolof formulierten Songtexten wenden sich die Musiker direkt an die senegalesische Bevölkerung und an die Regierung, die sie unter anderem mit satirischen Ver­gleichen kritisieren. Die Texte werden so zu einem Teil der Widerstandsstrategie und zu einem taktischen Element, um Repressionen zu begegnen. Marame Gueye, „Urban Guerrilla Poetry: The Movement Y’en a marre and the Socio-Political Influences of Hip Hop in Senegal“, in: The Journal of Pan African Studies, 6 (2013) 3, S. 22–42.
  35. 35 Devin Bryson, „The Rise of a New Senegalese Cultural Philosophy?“, in: African Studies Quarterly, 14 (2014) 3, S. 33–56 (47).
  36. 36 Adam Nossiter, „In Blunt and Sometimes Crude Rap, a Strong Political Voice Emerges“, in: New York Times, 18.9.2011.
  37. 37 Goedart Palm, „Kolonisierung der Rechenräume“, in: ders. (Hg.), Cyber Medien Wirklichkeit. Virtuelle Welterschließungen, Hannover 2004, S. 96–112.