„Staatsstreich“ oder „Revolution“ in der jemenitischen Hauptstadt
Am Morgen des 26. März 2015 intervenierte eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition militärisch im Jemen. Unterstützt wurde Riad dabei von neun Staaten, unter ihnen acht arabische. Nach den ersten Luftangriffen verkündete der saudische Botschafter in Washington vor der internationalen Presse, die Operation „Decisive Storm“ habe begonnen. Das erklärte Ziel der Intervention sei, die „legitime Regierung des Präsidenten Hadi vor den Übernahmeversuchen durch die Huthis zu schützen“.[1] International wurde die Militäroperation vorrangig von den USA, Großbritannien und Frankreich gestützt. Der damalige amerikanische Außenminister John Kerry lobte in einer Pressekonferenz das Eingreifen der Saudis gegen die Huthis und versprach der Koalition logistische Unterstützung und den Austausch von Geheiminformationen.[2] Ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin brachte zum Ausdruck, dass sein Ministerium „keine Zweifel an der Legitimität“ des Einsatzes habe und dass sich die jemenitische Regierung in einer „außerordentlich bedrohlichen Situation“ befinde.[3]
Saudi-Arabien legitimierte das militärische Eingreifen in seinem Nachbarstaat völkerrechtlich mit einem Hilferuf des jemenitischen Übergangspräsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi an den Golfkooperationsrat.[4] Am 23. März 2015 hatte Hadi den Rat um Unterstützung gegen die Huthis gebeten, eine bewaffnete Bewegung aus dem Norden Jemens, die der Präsident und seine Anhänger im Golf als Stellvertreter Irans betrachten. Sie hatte sich in den Monaten zuvor rasant und gewaltsam im Norden des Landes ausgebreitet. Den Huthis war es im September 2014 gelungen, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen. Im Einklang mit Resolution 2216 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VN)[5] hatte die Militärintervention zum Ziel, die Huthis aus der Hauptstadt und den staatlichen Institutionen zu vertreiben, um die Regierung Hadis wieder einsetzen zu können. Damit wäre die nationalstaatliche Legitimität wiederhergestellt, hofften die saudische Allianz, ihre Unterstützer im Westen und die VN. Daher behaupten prosaudische Stimmen, die Koalition verteidige „Legitimität“[6] und den jemenitischen Staat gegen einen Staatsstreich. Die Huthis dagegen verstehen ihre Machtübernahme in der Hauptstadt als Revolution des Volkes. Im Februar 2015 gründeten sie einen Hohen Revolutionären Rat, eine Art provisorische Regierung, die im Juli 2016 durch einen Hohen Politischen Rat ersetzt wurde. Das lange inaktive Parlament nahm im August 2016 seine Arbeit wieder auf und im November 2016 wurde ein neues Kabinett gebildet. Spätestens seit diesem Zeitpunkt betrachten sich die Huthis als legitime Regierung in Sanaa.[7] Gegenwärtig bilden sie eine Allianz mit dem ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Salih, der infolge der Massenproteste von 2011 seines Amtes enthoben wurde. Zusammen stellen sie die stärkste Kraft und genießen, besonders in der Hauptstadt, die Unterstützung der Bevölkerung. Sanaa gilt als Symbol der nationalstaatlichen Legitimität, Souveränität und Autorität. Deswegen steht die Kontrolle über die Hauptstadt und den Regierungssitz im Mittelpunkt des Konflikts. Diese Wahrnehmung entstand im Spätsommer 2014, als die Huthis zunächst Proteste in der Stadt organisierten und diese später mit Gewalt einnahmen.
Während die Huthis also versuchen, ihre Machtübernahme als Ergebnis friedlicher Proteste und einer „Revolution“ zu rechtfertigen, sieht die Gegenseite darin einen gewaltsamen Staatsstreich. So stehen sich zwei Diskurse gegenüber, die sich um die Frage nach der Begründung nationalstaatlicher Legitimität drehen. Die eine Seite beruft sich dabei auf staatliche Institutionen und internationale Abkommen, personifiziert von Präsident Hadi, die andere auf die Unterstützung durch das Volk und die Souveränität des jemenitischen Staates.[8] Die Auseinandersetzung spielt sich nicht nur im physischen Raum ab, das heißt in den Kämpfen um die physische Kontrolle über die Hauptstadt, sondern auch in virtuellen Räumen. Es geht darum, welcher Diskurs sich lokal und international durchsetzen wird und wie sich nationalstaatliche Legitimität im Jemen von der Hauptstadt aus erzeugen lässt. Die folgende eingehende Betrachtung dieser Diskurse gibt Aufschluss darüber, warum sich die Konfliktparteien auch mehr als zwei Jahre nach Beginn der Intervention noch immer in einer Pattsituation befinden.
Die Unterstützung für Präsident Hadi beruht auf internationalen Abkommen und Resolutionen, die ihn 2011 zur Macht führten und seine Präsidentschaft offiziell legitimieren. Eine Hauptrolle dabei spielt das Golfabkommen, das die Staaten des Golfkooperationsrats mit Unterstützung der VN und der EU im Jahre 2011 ausgearbeitet haben. Anlass waren die Massenproteste des sogenannten Arabischen Frühlings und ein gewaltsamer Konflikt um die Hauptstadt. Mit dem Abkommen sollte ein Bürgerkrieg verhindert werden. Allerdings waren nur die etablierten Parteien an den Verhandlungen beteiligt, wie die Regierungspartei „Allgemeiner Volkskongress“ (AVK) und die Oppositionsparteien, besonders die Islah-Partei, ein Zusammenschluss islamistischer Strömungen einschließlich der Muslimbruderschaft. Wichtige Akteure der Protestbewegung hingegen blieben außen vor, allen voran die Huthis, die Unabhängigkeitsbewegung Hirak im Süden des Landes[9] und die unabhängige Jugendbewegung.[10] Aus diesem Grund bestand die neue Einheitsregierung vom Dezember 2011 nur aus Mitgliedern der AVK, deren Vorsitz weiterhin in den Händen des abgesetzten langjährigen Staatspräsidenten Ali Abdullah Salih lag, sowie Vertreterinnen und Vertretern der ehemaligen Oppositionsparteien. Dem vormaligen Vizepräsidenten Hadi wurden mit Einverständnis der Verhandlungsparteien im November 2011 alle präsidentiellen Befugnisse übertragen. Im Februar 2012 wurde er als Konsenskandidat der Übergangsregierung ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten gewählt. Das Golfabkommen und der Mechanismus seiner Umsetzung[11] ersetzten die Verfassung und bildeten von nun an die Legitimitätsgrundlage der staatlichen Institutionen. Diese Dokumente sollten einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen sich Akteure am Transformationsprozess beteiligen sollten. Der VN-Sicherheitsrat war befugt, Akteure, die den Prozess störten (Spoiler), mit Sanktionen zu belegen. Dem Übergangspräsidenten Hadi fiel die Aufgabe zu, für die Umsetzung des Transformationsfahrplans zu sorgen. Dafür hatte er den Rückhalt der VN.
Mit dieser Initiative sollten nicht nur die Protestursachen behoben, sondern auch die bis dato lokalen Konflikte mit den Huthis im Norden und dem Hirak im Süden befriedet werden.[12] In der sogenannten Nationalen Dialogkonferenz (NDK) sollten von März 2013 bis Januar 2014 politische und gesellschaftliche Gruppen über Lösungen für Staat und Gesellschaft des Jemen diskutieren. Beteiligt waren auch die Huthis, der Hirak, die Jugendbewegung und andere marginalisierte Gruppen. Doch die Konferenz war nicht imstande, die Konfliktursachen aus der Welt zu schaffen und Vertrauen zwischen Übergangsregierung und Bevölkerung zu erzeugen.[13] Ein wichtiges Resultat der Konferenz bestand darin, dass das Land in sechs föderale Regionen aufgeteilt werden sollte. Dies lehnten aber nicht nur die Huthis ab,[14] sondern auch der Hirak und Teile der Salih-Partei. Andere Beschlüsse der Konferenz, mit denen sich die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger spürbar hätten verbessern lassen, wurden nicht verwirklicht.
Mit dem Scheitern der Konferenz vertiefte sich der Graben zwischen der Hadi-Regierung und der Bevölkerung immer mehr. Das nutzten die Huthis für sich, indem sie Hadis Legitimität in Frage stellten. Sie ließen Taten folgen und zogen in Richtung Hauptstadt, in der sie auf wachsenden Zuspruch aus der Einwohnerschaft stießen. Obwohl die Unzufriedenheit in der Bevölkerung stieg, die NDK ein Misserfolg war und die Regierung deshalb an Legitimität eingebüßt hatte, verlängerten die VN Hadis Amtszeit nach Ablauf der Konferenz um zwei Jahre, ohne die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger des Jemen einzuholen.[15] Auf der internationalen Ebene gilt Hadi damit als legitimer Vertreter des jemenitischen Nationalstaates. Dieser Diskurs verkennt aber lokale Perspektiven, die oft im Widerspruch zu internationalen Positionen stehen.
Soziale Medien wie Facebook erlauben heute mehr denn je einen Einblick in lokale Sichtweisen. Das gilt auch für die Debatten im Jemen. Die Charakteristika dieses virtuellen Raums ermöglichen eine vielfältigere und kontinuierlichere Diskussion als in traditionellen Medien. Im Jemen entwickelte sich ein virtueller Raum besonders rasant während der Massenproteste von 2011. Facebook wurde zur zentralen Plattform für öffentliche Debatten. Zwischen 2010 und 2014 vervielfachte sich die Zahl jemenitischer Facebook-Nutzerinnen und Nutzer von 100 000 auf 1,5 Millionen.[16] All jene mit Internetzugang und einem gewissen Bildungsgrad können dort ihre Meinungen und Sorgen ausdrücken. Aufgrund ihrer besonders intensiven Aktivität auf Facebook wurden Einzelne[17] immer stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Auch bekannte Politikerinnen und Politiker, religiöse Persönlichkeiten oder Stammesführer begannen die Website zu nutzen. Neben persönlichen Eindrücken aus dem Alltag posten Nutzerinnen und Nutzer auch Nachrichten, Videos, Gedichte und Lieder. Da jedes Smartphone internetfähig ist und die neueren Modelle eine hochauflösende Kamera besitzen, sind Nutzerinnen und Nutzer in der Lage, Proteste, Forderungen von Protestierenden sowie Maßnahmen staatlicher Repression im Bild festzuhalten und für eine globale Öffentlichkeit sichtbar zu machen.[18] Erfahrungen, Eindrücke oder Emotionen von der Straße werden so in den virtuellen Raum getragen. Zugleich ist die internationale Gemeinschaft ebenfalls auf Facebook vertreten, denn für den Jemen relevante Leitmedien, Botschaften und internationale Organisationen verfügen über eigene Accounts, oft auf Englisch und Arabisch. Beiträge dieser Account-Inhaberinnen und -Inhaber werden von jemenitischen Nutzerinnen und Nutzern wahrgenommen, im eigenen Kontext interpretiert, kommentiert und geteilt. Damit ist die internationale Gemeinschaft auch im virtuellen Raum der Jemeniten auf Facebook präsent.
Informationen und Emotionen werden nicht nur in den virtuellen Raum hinein-, sondern auch aus ihm hinausgetragen. Zeitungen und Fernsehsender im Jemen nehmen seit 2011 regelmäßig Bezug auf Facebook-Posts. Auch in den sogenannten Qat-Runden, in denen sich die Bewohner Sanaas traditionell zu Politik und Gesellschaft austauschen, ist Facebook heute ein wesentlicher Bestandteil. Nicht nur wird in diesen Runden auf Facebook-Einträge verwiesen, sondern dort geführte Gespräche finden auch ihren Weg in das soziale Medium. Hier wird erkennbar, dass zwischen Online und Offline eine wechselseitige Beziehung besteht. Der virtuelle Raum von Facebook ist mit dem physischen Raum auf komplexe Art verbunden. Für regelmäßige Nutzer gibt es im Prinzip keine strikte Dichotomie zwischen Online und Offline. In den Diskursen auf Facebook werden Ereignisse aufgegriffen und unterschiedlich interpretiert. Auch diese Interpretationen werden von den Nutzern in ihren Alltag und auf „die Straße“ getragen und vice versa. So ließ sich auf Facebook nachvollziehen, wie sehr sich die Atmosphäre seit 2014 emotional aufgeladen hat, als die Huthis kurz davor standen, die Hauptstadt einzunehmen. Diese gespannte Atmosphäre hat sich in einer reziproken Beziehung zwischen dem virtuellen und dem physischen Raum entwickelt. Sie spielt auch für die wachsende politische und gesellschaftliche Zersplitterung des Landes eine Rolle.
In den Monaten vor der Machtübernahme der Huthis in Sanaa posteten Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten ihre Forderungen, kommunizierten ihre Erlebnisse in den Straßen, teilten Fotos oder Videos von Protesten und schrieben ihre Gespräche mit Freundinnen und Freunden auf. Die Analyse von Facebook-Einträgen im August und September 2014 verdeutlicht nicht nur, welch unterschiedliche Sichtweisen auf die Ereignisse in Sanaa existierten. Sie legt auch Indizien offen, die darauf hindeuteten, wie die Huthis ab diesem Zeitpunkt weiter vorgehen wollten.
Am 30. Juli 2014 beschloss die jemenitische Regierung, die Treibstoffpreise um 90 Prozent anzuheben, und leistete damit einer Forderung des Internationalen Währungsfonds Folge. Er hatte seine weitere finanzielle Unterstützung davon abhängig gemacht, dass die Hadi-Regierung die staatlichen Subventionen für Benzin und Diesel abschafft. Von dieser Entscheidung profitierten in erster Linie die Regierungsgegner. Der ohnehin bestehende Unmut in der Bevölkerung wuchs rapide und die Nachricht verbreitete sich rasch auf Facebook. Einige Nutzerinnen und Nutzer argwöhnten, der Sicherheitsapparat treffe Vorkehrungen gegen mögliche Aufstände.
In den darauffolgenden Wochen nahmen die Proteste in den Straßen Sanaas merklich zu. Vor allem die Huthis begannen nun gegen die Regierung zu mobilisieren. Im Sommer 2014 hatte sich der bewaffnete Arm der Bewegung bereits in Ortschaften rund um die Hauptstadt festgesetzt. Schon in den Jahren zuvor hatte sich die Zahl ihrer Anhänger unter den Bewohnern Sanaas stetig erhöht. Dass die Huthis in der Stadt immer präsenter wurden, zeigte sich hauptsächlich daran, dass ihr charakteristisches Logo immer häufiger auf Hauswänden und Mauern zu finden war. Banner und Flyer in den Straßen und das vermehrte öffentliche Zelebrieren zaiditischer Feiertage unterstrichen den Anspruch, den die Huthis besonders auf die alten Stadtteile Sanaas erhoben.[19]
Auf Facebook propagierten die Huthis einen klar erkennbaren Diskurs. Demnach unterstütze das Volk die Huthi-Bewegung, die Hadi-Regierung sei illegitim und Einmischung von außen sei nicht statthaft. In den auf Facebook geteilten Reden ihres Führers Abdulmalik al-Huthi präsentierte sich die Bewegung als volksnah. Sie stellte sich gegen die etablierte korrupte Elite und behauptete, die Interessen aller ausgeschlossenen gesellschaftlichen Gruppen zu vertreten. Ali al-Bukhaiti, damals Mitglied des politischen Arms (im Gegensatz zum bewaffneten Arm) der Huthi-Bewegung und Delegierter im NDK, postete im Laufe des Augusts 2014 Bilder der Proteste in und außerhalb der Stadt. Dabei wurde er nicht müde zu betonen, es sei das einfache Volk, das friedlich gegen den Benzinpreisanstieg und die korrupte Regierung demonstriere. Die Legitimität der Regierung stellte er rundheraus in Frage und begründete dies mit der weit verbreiteten Korruption und der Unfähigkeit der Regierung, Sicherheit im Land herzustellen. Damit meinte er vor allem den Süden des Landes, wo es al-Qaida gelungen war, Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen.
Waren die Huthis und die Gefolgschaft Salihs zuvor jahrelang verfeindet gewesen, glichen sich nun die Diskurse beider Gruppen auf Facebook während der Mobilisierungsphase immer mehr aneinander an. Dennoch bestanden beide weiterhin darauf, sie sprächen lediglich den Willen des Volkes aus, statt gemeinsam Parteiinteressen zu verfolgen. Sowohl Huthis als auch Salih-Anhänger zogen Parallelen zum Militärputsch des jetzigen ägyptischen Präsidenten General Abdulfattah al-Sisi gegen die Muslimbruderschaft im Sommer 2013. Damals hatte das Militär den gewählten Staatspräsidenten Mohammed Mursi, welcher der Muslimbruderschaft angehört, nach erneuten Massenprotesten mit Unterstützung aus der Bevölkerung gestürzt. Nach dem ägyptischen Muster kristallisierte sich schnell die jemenitische Muslimbruderschaft (im Jemen existiert sie innerhalb der Islah-Partei) als Hauptgegner heraus. Der Diskurs folgte dem regionalen Trend, die Muslimbruderschaft zum Sündenbock zu machen und als regierungsunfähig zu diffamieren. So benutzten Anhänger Salihs und der Huthis den Hashtag „Preisanstieg der Brüder“ und teilten ein Meme, welches das Raba’a-Zeichen der ägyptischen Muslimbruderschaft als Tanksäule darstellt. Das Raba’a-Zeichen verweist auf den Platz um die Moschee Raba’a al-Adawiya in Kairo, wo Sicherheitskräfte 2013 im Zuge des Militärputsches ein Massaker an Protestierenden aus der Muslimbruderschaft verübten.[20] Mit dem Meme sollte der Islah-Partei die Verantwortung für den Preisanstieg zugeschrieben und die Partei auf eine Ebene mit der ägyptischen Muslimbruderschaft gestellt werden. Auch behaupteten die Gegner Islahs, die Muslimbruderschaft werde von Katar unterstützt. Damit wollten sie sie als ausländische Gruppierung denunzieren.
Inspiriert von den Ereignissen des Jahres 2013 in Ägypten, wurde nun ein Jahr später im Jemen eine Revolution gegen die korrupte Regierung propagiert. Ein Journalist und Unterstützer Salihs postete im August 2014 immer wieder den Ruf nach einer „Revolution der Reifen“. Kommentatoren reagierten mit Bildern von LKWs, die Autoreifen transportierten, und versicherten, die Reifen seien schon auf dem Weg. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Bilder von brennenden Autoreifen und von Protestlern in Sanaas Straßen auf Facebook erschienen. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits eine Allianz der ehemaligen Feinde Huthis und Salih gegen Islah und Hadi ab.
Offizielle Vertreter der Huthis bedienten sich nun immer häufiger der Plattform Facebook. Dort informierten sie über ihre Auftritte in regionalen und internationalen Fernsehmedien, verbreiteten Links zu ihren veröffentlichten Meinungsartikeln und machten ihre Interpretationen lokaler Ereignisse publik. Sie zeigten Bilder von Protesten in den Straßen der Hauptstadt und von ihrer Anwesenheit inmitten der Protestierenden. Auf diese Weise stärkten sie die Präsenz der Huthis in den sozialen Medien.
Währenddessen breiteten sich tausende Protestler in drei „Eskalationsphasen“ weiter im öffentlichen Raum aus. In der ersten Phase ab dem 18. August 2014 blockierten sie mit einem Protestcamp die Straße zum internationalen Flughafen. Auf Facebook gepostete Bilder von Lebensmitteln, die aus Saada im Nordwesten des Jemen zu den Camps transportiert wurden, sollten Zeichen der Solidarität aus dem Kernland der Huthis setzen. Darüber hinaus ließen sie sich als Bestandteil einer Strategie deuten, Versorgungsketten für eine langfristige Besetzung aufzubauen.
Die nächste Phase begann eine Woche später. Nun schlugen die Huthis Zelte vor Ministerien auf und erweiterten damit ihren Aktionsradius. Präsident Hadi zeigte sich zu Verhandlungen bereit und bot an, die Subventionen auf Treibstoff zum Teil wieder einzuführen und die Regierung umzubilden. Doch die Huthis lehnten ab. Stattdessen marschierten sie in der dritten Phase ab dem 9. September 2014 zum Büro des Premierministers. Dort kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften. Dabei kamen mindestens neun Menschen ums Leben und 67 wurden verletzt.
Das Ereignis markierte den Beginn einer Gewaltspirale, an deren Ende zwei Wochen später die Einnahme der Hauptstadt durch die Huthis stehen sollte. Huthi-Unterstützer priesen die getöteten Demonstranten als Märtyrer der Revolution, die im Kampf gegen die korrupte Elite umgekommen seien. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtete, Sicherheitskräfte hätten tödliche Gewalt gegen Protestierende angewandt, und zog Vergleiche zur staatlichen Repression gegen friedliche Demonstranten während der Massenproteste von 2011.[21] Solche internationalen Bewertungen engten den Handlungsspielraum des Übergangspräsidenten Hadi im Umgang mit den Huthi-Protestlern ein. Das Gewaltpotential der Huthis dürfte er erkannt haben, auch wenn sie sich in Sanaa selbst noch friedlich verhielten. Außerhalb der Stadt waren sie bereits seit Monaten mit massiver Gewalt vorgegangen. Trotzdem entsandte Präsident Hadi keine Truppen. Es waren hauptsächlich der Islah nahestehende Militärs und Stämme, welche die vorrückenden Huthis aufzuhalten versuchten und sich auch innerhalb der Stadt Gefechte mit ihnen lieferten. Am 18. September 2014 jedoch hatten Kämpfer der Huthis Sanaa eingekesselt und übernahmen in den nächsten drei Tagen die Kontrolle über die Stadt.
Doch die von den Huthis propagierte „Revolution“ wurde nicht von allen Jemeniten als solche verstanden. Schon als im August 2014 auf Facebook Bilder von brennenden Reifen während der Proteste gegen die Benzinpreiserhöhung kursierten, hinterfragten Beobachterinnen und Beobachter auf der Plattform die Absichten der Demonstrierenden in der Hauptstadt und befürchteten eine Konterrevolution. Anhänger der Islah-Partei spielten in dem Anti-Huthi-Diskurs eine prägende Rolle. Zu der Zeit waren sie der stärkste politische Gegner der Huthis. Im Zuge des Transformationsprozesses seit Ende 2011 hatte Islah an politischem Einfluss gewonnen. Gemäß dem Golfabkommen stellte die Partei einen großen Teil der Übergangsregierung. Nicht nur ging ihr Machtgewinn direkt auf die Initiative des Golfkooperationsrats zurück. Sie diente der Partei auch als Grundlage für ihre Legitimität. Als die Regierung im November 2011 ihre Arbeit aufnahm, waren die Hoffnungen in der Bevölkerung auf positive Veränderungen groß. Doch der Regierung gelang es nicht, einen wirklich inklusiven Transformationsprozess in Gang zu bringen, die Korruption wirkungsvoll zu bekämpfen und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Reformen die Lebensbedingungen verbessern würden. Außerdem waren die traditionellen Eliten zerstritten und missbrauchten den politischen Prozess für eigene Zwecke. Das erschwerte es den Reformkräften noch mehr, substantielle Fortschritte zu erzielen. So verlor die Islah-Partei an Glaubwürdigkeit und Unterstützung.
Auch Anhänger der Islah-Partei sowie unabhängige Befürworter des Transformationsprozesses ahnten nun, dass die Krise sich zuspitzen würde. Sie nahmen Anstoß an der Anhebung der Treibstoffpreise und manche verlangten sogar, es müsse eine neue Regierung gebildet werden. Viele von ihnen hatten schon 2011 an den Protesten gegen die alte Elite teilgenommen, die aber noch immer in der Regierung vertreten war. Damit fand die Kritik der Huthis an der Regierung parteiübergreifend Gehör, besonders die Korruptionsvorwürfe. Was den Umgang mit der Regierungskrise betrifft, unterscheidet sich der Islah-Diskurs aber stark vom Huthi-Diskurs. Ein der Islah-Partei nahestehender Journalist schrieb auf Facebook, die Hälfte des Kabinetts bestehe aus Mitgliedern des AVK, also der Partei des einstigen Präsidenten Salih. Deshalb könne nicht allein Islah für den Preisanstieg verantwortlich gemacht werden. Auch räumten Islah-Unterstützer in ihren Facebook-Posts ein, dass die Partei Fehler gemacht habe, und riefen dazu auf, diese künftig gemeinsam zu vermeiden. Vertreter dieser Richtung warfen den Huthis vor, das Land zu spalten und den Staat zu unterminieren. Deswegen beharrten sie darauf, dass die unterschiedlichen Gruppen im Rahmen der staatlichen Institutionen ihren Zusammenhalt bewahren müssten. Ein junger Intellektueller der Islah-Partei verglich die Huthis mit al-Qaida, denn beide würden gleichermaßen Territorium einnehmen und damit die Autorität des Staates untergraben. Für ihn bedeutete der Aufstieg der Huthis zugleich den Verlust des Staates. Was Huthi- und Salih-Unterstützer als Revolution bezeichneten, verstanden ihre Gegner als Staatsstreich.
Erst mit dem Nationalen Friedens- und Partnerschaftsabkommen zwischen der Hadi-Regierung und den Huthis vom 21. September 2014 endeten die Konfrontationen in Sanaa. Die Regierung erhoffte sich von dem Abkommen, dem gewaltsamen Vorstoß der Huthis ein Ende zu setzen. Über Transparenz, Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftsreformen hinaus forderten die Huthis zwar, eine inklusive Regierung zu bilden, in der auch die Sezessionsbewegung Hirak aus dem Süden des Landes vertreten sein sollte.[22] Doch war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob die Huthis lediglich an Partizipation oder vielmehr an Machtmaximierung interessiert waren, denn südlich von Sanaa breiteten sie sich weiterhin mit Gewalt aus. Das Abkommen konnten sie als Erfolg für sich verbuchen. Obwohl darin die Demobilisierung der Huthis gefordert wird, werden die neuen Machtverhältnisse in der Hauptstadt anerkannt. So konnten die Huthis durch die Aneignung von Raum in der Hauptstadt ihren politischen Einfluss mehren und ihn durch das Abkommen institutionalisieren. Die politische Macht fest im Blick, gelang es ihnen Ende Januar 2015, die Hadi-Regierung zum Rücktritt zu zwingen.[23] Am 7. Februar 2015 verkündete Abdulmalik al-Huthi in einer eigenen Verfassungserklärung die Gründung eines Revolutionären Komitees, das eine neue Regierung bilden sollte. Damit vollzogen die Huthis einen „schleichenden Staatsstreich“.[24] Unabhängige und Islah-Mitglieder hatten schon nach Unterzeichnung des Abkommens zu Protesten aufgerufen. Fotos von den Demonstrationen zeigten Banner, auf denen gefordert wurde, die staatlichen Institutionen zu erhalten. Die Banner richteten sich zwar nicht direkt gegen die Huthis, aber ausdrücklich gegen Milizen.
Zwischen der Einnahme der Hauptstadt im September 2014 und der Verfassungserklärung vom Februar 2015 diskutierten die Jemeniten auf Facebook darüber, wie ein Staat der neuen Machthaber aussehen würde. Bilder wurden geteilt, die zeigten, wie die Huthis immer deutlicher Staatsfunktionen übernahmen. Zu sehen waren Stammeskämpfer, die in einem Polizeiauto saßen, oder Checkpoints in Sanaa, an denen Milizionäre uniformierte Soldaten und Polizisten durchsuchten. Für die Gegner der Huthis manifestierte sich in diesen Bildern die Aushebelung des Staates. Entweder eigneten die Huthis sich dessen Symbole an oder nahmen ihnen ihre Bedeutung, wie bei der erwähnten Durchsuchung. Dagegen interpretierten Unterstützerinnen und Unterstützer der neuen Machthaber dieselben Bilder als Symbole dafür, dass das jemenitische Volk den Staat den korrupten Eliten entrissen habe. Nun sollten aus dieser Sicht die in Stammestracht gekleideten Kämpfer in der Stadt für Sicherheit sorgen.
Der Konflikt um den Staat kommt im Diskurs vor allem in den Bezeichnungen für die unterschiedlichen Akteure zum Ausdruck. Während der Kämpfe um die Hauptstadt Sanaa war vielen Beobachtern unklar, wer sich den Huthis entgegenstellte. Zu diesem Zeitpunkt war das Militär bereits stark zersplittert, so dass der international anerkannte Präsident über keine eigene militärische Unterstützung verfügte. Es gab keinen Sicherheitsapparat, der ausschließlich dem Staat gegenüber loyal war und diesen vor nichtstaatlichen Gewaltakteuren schützte. Deutlich wird dies nicht nur an der Eroberung Sanaas, sondern auch der Art und Weise, wie über Kämpfer gesprochen wurde. Am 19. September 2015 richtete sich ein Führer der Huthi-Bewegung in einem Facebook-Post an die Bewohner der Hauptstadt und erklärte, es gebe keinen Grund zur Sorge. Vorsehen sollten sich nur diejenigen, die sich gegen die Huthis auflehnten und Zivilisten bedrohten. Allerdings erläuterte er nicht, wer denn genau zu den Widersachern der Huthis zähle. In einem anderen Eintrag verkündete er, die Auseinandersetzungen in Sanaa fänden zwischen den „Beschützern der Revolution“ und den „Mördern der Revolutionäre“ statt. In diesem Diskurs ist der Gegner nicht die Institution Staat, sondern die Islah-Partei, unabhängig davon, ob ihre Bewaffneten als uniformierte Soldaten auftreten oder nicht. Unterstützer/innen der Huthis bezeichnen Gruppen ihrer Milizionäre immer wieder als „Volkskomitees“. Der Begriff wird im allgemeinen für Kämpfer verwendet, die nicht der regulären Armee angehören. Zuletzt wurde er im Süden des Jemen benutzt, wo sich 2012 bewaffnete Volkskomitees bildeten, um den Staat in seinem Kampf gegen al-Qaida zu unterstützen. Hier offenbart sich die Selbstwahrnehmung der Huthis: Sie sehen sich als Kraft des Volkes, welche die korrupte Regierung gestürzt hat, um dem Staat zu helfen, seine Funktionen wie etwa die Gewährleistung von Sicherheit besser zu erfüllen.
Im Gegensatz dazu sprach ein Islah-Journalist auf Facebook von Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppen der Huthis und der Armee. Jene Teile des Militärs, die in Sanaa den Huthis Widerstand leisteten, waren mit Islah verbunden. Es handelte sich in erster Linie um Truppen der Ersten Panzerdivision, deren Militärbasis im Norden der Hauptstadt liegt. Was also für Islah-Unterstützer als Armee galt, war aus Huthi-Perspektive lediglich die Islah-Partei. Gegner der Huthis verwendeten ebenfalls den Begriff Volkskomitee, und zwar für jene Gruppe Kämpfer, die an der Seite der Ersten Panzerdivision Sanaa verteidigte. Diese Wortwahl zeigt, dass die unterschiedlichen Gruppen versuchten, sich als legitime Kraft zu positionieren. Sie wandten sich nicht gegen den Staat, sondern präsentierten sich entweder als dessen Unterstützer oder, wie die erwähnte Panzerdivision, als seine unmittelbaren Vertreter. Die Begriffsverwendung ist Ausdruck der Selbstwahrnehmung beider Kontrahenten, von denen jeder glaubt, der besser legitimierte Akteur zu sein.
Ende Februar 2015 gelang es dem Übergangspräsidenten Hadi, aus der von den Huthis kontrollierten Hauptstadt nach Aden zu fliehen, wo er seinen Rücktritt widerrief und am 23. März 2015 den Golfkooperationsrat um Hilfe bat. Als die saudische Allianz drei Tage später im Jemen mit der Begründung intervenierte, sie wolle den jemenitischen Staat vor der Übernahme durch die Huthis schützen, löste dies ambivalente Reaktionen im Land aus. Die Intervention trieb einen weiteren Keil in die bereits gespaltene Gesellschaft.
Für die Huthi-Salih-Allianz in Sanaa bildet die Militärintervention einen Angriff auf die Souveränität des jemenitischen Staates und Volkes. Anders als im internationalen Sprachgebrauch werden die Huthis in diesem Diskurs weder als Rebellen noch als Milizen bezeichnet.[25] Besonders Gefolgsleute des einstigen Präsidenten Salih sprechen vom staatlichen jemenitischen Sicherheitsapparat, von den Republikanischen Garden sowie der nationalen Armee und Polizei, die von der Koalition angegriffen würden. Im Gegendiskurs gelten die Kämpfer des Huthi-Salih-Bündnisses als Milizen, die Sanaa und andere Teile des Jemens besetzen.
Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer thematisieren besonders das Fehlen einer nationalen Armee. In den Augen vieler liegt die Ursache für die aktuelle Misere im Treiben von Milizen, die nicht dem Staat, sondern Individuen gegenüber loyal sind. Daher begrüßen zahlreiche Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer die Intervention als geeignetes Instrument, die Legitimität – oder genauer: Rechtsstaatlichkeit, formale Institutionen und Anerkennung internationaler Abkommen – zu verteidigen.
Folgerichtig bezeichnen Gegner der Huthis die Abgesandten der Hadi-Regierung in Friedensverhandlungen als Delegation der Legitimität oder der legitimen Regierung. Dagegen titulieren Parteigänger der Huthi-Salih-Allianz sie als Delegation des Terrors, des Islamischen Staates oder Riads. Die Vertreter dieses Bündnisses wiederum firmieren bei ihren Unterstützerinnen und Unterstützern als Delegation der Nation, auf der Gegenseite indes als Delegation des Gestürzten (Salih), der Milizen oder des Putsches.
Mehr als zwei Jahre nach Beginn der Intervention haben sich die Grundpositionen in den Diskursen kaum verändert. Auch die physische Präsenz der Huthis und damit die Machtverhältnisse in der Hauptstadt bestehen fort. Die Huthis stellen zusammen mit Salih samt seinen Gefolgsleuten und Teilen des Sicherheitsapparats die stärkste Kraft in Sanaa und empfinden sich als legitime Regierung. Oppositionelle werden gewaltsam unterdrückt, festgenommen, entführt oder getötet. Bis heute hat sich kein bewaffneter Widerstand in der Hauptstadt bilden können. Auch auf Facebook scheinen die Luftangriffe der saudischen Koalition auf Sanaa in den Alltag eingezogen zu sein. Weil die staatliche Infrastruktur weitgehend zusammengebrochen ist, rücken Fragen des Alltäglichen in den Vordergrund, beispielsweise die Strom-, Benzin- oder Wasserversorgung. Die Wut der Hauptstadtbevölkerung auf Saudi-Arabien bescherte der Huthi-Salih-Allianz weiteren Rückhalt. Den Luftangriffen zum Trotz demonstrieren noch immer Tausende auf Sanaas Straßen gegen Saudi-Arabiens Vorgehen. Weder die Bombardements noch die Aktionen von Kämpfern außerhalb Sanaas, die von den Golfstaaten unterstützt werden, konnten die Position der Huthi-Salih-Allianz in der Hauptstadt schwächen.
Die Hadi-Regierung in Riad, die in der internationalen Gemeinschaft als legitime Regierung des jemenitischen Nationalstaates gilt, fordert auf Grundlage der VN-Resolution 2216 dennoch weiterhin den vollständigen Rückzug der Huthis aus der Hauptstadt, bevor ein Abkommen über die Bildung einer neuen Regierung unterzeichnet werden kann. Damit trägt sie weder den Machtverhältnissen in der Hauptstadt Rechnung, noch berücksichtigt sie die Sichtweise der Huthi-Salih-Allianz. Vor allem aus diesem Grund hat sich Hadi als Blockierer in den Friedensverhandlungen unter dem Dach der VN herausgestellt. Friedensgespräche zwischen den Kontrahenten fanden zuletzt von Mai bis August 2016 in Kuwait statt. Nachdem sie gescheitert waren, schlug der Sondergesandte der VN im Oktober 2016 eine Initiative vor, die den Übergangspräsidenten allerdings zur Randfigur degradiert hätte.[26] Wenig überraschend lehnte Hadi die Initiative ab. Im November 2016 schließlich führten Abgesandte der USA und der Huthis direkte Gespräche im Oman, deren Ergebnisse Präsident Hadi nicht anerkannte.[27] Gegenwärtig ist eine Annäherung zwischen den Saudis und Salih zu beobachten, die ebenfalls darauf hindeutet, dass Hadi aus den Friedensverhandlungen ausgeschlossen werden soll. Das wäre eine pragmatische Lösung, um die Gewalt in diesem Konflikt zu minimieren. Zwar würden die Konfliktursachen, darunter die Konzentration der politischen Macht in Sanaa, auf diese Weise nicht beseitigt, aber immerhin würden die Machtverhältnisse in Sanaa realistischer einkalkuliert.
Doch die internationale Gemeinschaft tut sich schwer damit, Hadi künftig nicht mehr an den Verhandlungen teilnehmen zu lassen. Dies könnte nämlich zur Folge haben, dass der Diskurs der Huthi-Salih-Allianz in den Gesprächen die Oberhand gewänne. Damit würde das Bündnis seine Selbstwahrnehmung als legitime Kraft des Volkes auch auf dem internationalen Parkett durchsetzen. Sehr wahrscheinlich würde die Familie des ehemaligen Präsidenten Salih an die Schalthebel der Macht in Sanaa zurückkehren. Das würde die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zunichte machen, die sich seit 2011 kontinuierlich um Salihs Entmachtung und einen Übergang hin zu einem inklusiveren System bemüht. Tritt eine solche Entwicklung ein, würde sie aus Sicht der Huthi-Salih-Allianz die Übernahme Sanaas als Revolution legitimieren.[28] Dem Diskurs hingegen, in dessen Perspektive die Ereignisse als Staatsstreich zu verstehen sind, würde der Boden entzogen. Dies wiegt umso schwerer, als die Legitimität internationaler Abkommen und des von den VN gestützten Transformationsprozesses auf dem Spiel stände und damit auch die Basis des international anerkannten jemenitischen Nationalstaates. In der Folge geriete die internationale Gemeinschaft in Bedrängnis, denn dann käme die westliche Unterstützung für die von Saudi-Arabien angeführte Intervention aufs Tapet. Vor dem Hintergrund zahlreicher Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die der Koalition vorgeworfen werden, wäre dies für Saudi-Arabien und ihre Unterstützer im Westen besonders heikel.[29]
Noch personifiziert Hadi die international anerkannte Staatlichkeit des Jemen sowie internationale Werte und Normen. Sowohl diskursiv als auch militärisch befinden sich die Konfliktparteien in einer Pattsituation. Doch solange die Verhandlungen im Rahmen der VN keine Erfolge zeitigen und die Saudis sich weiter an Salih annähern, wird der endgültige Sturz Hadis immer wahrscheinlicher – und so auch das oben skizzierte Szenario. Genau aus diesem Grund ist ein Vorstoß in den Verhandlungen, die von den Vereinten Nationen begleitet werden, dringend notwendig. Doch sie können nur erfolgreich sein, wenn sie in einem neuen Verhandlungsrahmen mit allen beteiligten Konfliktakteuren und neuen staatlichen Vermittlern stattfinden.
Mareike Transfeld
Doktorandin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies
(bis 2016 an der SWP)
Autorin